Advocacy in der Distanzierungsarbeit

Perspektiven der anwendungsorientierten Forschung auf die Präventionspraxis und Distanzierungsarbeit – Rückblick auf die interdisziplinäre RADIS-Fachtagung 2024

Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Violence Prevention Network

Im Februar 2024 hat RADIS eine interdisziplinäre Fachtagung am Zentrum für interdisziplinäre Forschung (ZiF) in Bielefeld durchgeführt, auf der aktuelle Forschungsergebnisse aus ausgewählten Forschungsprojekten in thematischen Panels präsentiert, diskutiert und abschließend von Fachkolleg*innen kritisch kommentiert wurden.

Der neunte Beitrag dieser Blog-Reihe fokussiert ein Panel, bei dem Perspektiven aus Wissenschaft und Praxis zum Thema Präventionspraxis und Distanzierungsarbeit im Phänomenbereich des religiös begründeten Extremismus aufgezeigt wurden. In dem zweistündigen Slot referierten u. a. Eike Bösing (Distanz) über die Handlungspraxis von Fachkräften der Islamismusprävention und Prof. Dr. Dennis Walkenhorst (iu – Internationale Hochschule) über Gelingensbedingungen eines erfolgreichen Erfahrungs- und Wissensaustauschs im Feld der Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit. Im Anschluss diskutierten Dr. Juliane Kanitz (i-unito) und Harry Guta (beRATen e. V.) in einem Werkstatt-Gespräch den soziologischen Begriff der Resonanz (Rosa 2016) als Konzept für die Distanzierungsarbeit.

Normen und Logiken der Fachpraxis als Spannungsfeld

Eike Bösing wies darauf hin, dass die Fachpraxis multiprofessionell aufgestellt ist und dennoch überwiegend dem Berufsfeld der Sozialen Arbeit zugeordnet werden kann. Grundsätzlich wird das professionelle Handeln der Präventionspraktiker*innen dadurch gewährleistet, dass sie im fachlich-organisationalen Rahmen (bspw. eines Trägers) und nach ethisch-normativen Standards der Sozialen Arbeit arbeiten. Praktiker*innen müssen dabei ihren authentischen und natürlichen Umgang mit ihren Klient*innen, aus dem ein gemeinsamer und vertrauensvoller Erfahrens- und Interaktionsraum entsteht, mit diesen Normen vereinen. Sie müssen dabei teils spannungsgeladene Perspektiven interaktiv und kommunikativ vermitteln und ein kohärentes Prinzip der Problembearbeitung etablieren.

In diesem Zusammenhang konnten drei Arten von Handlungspraktiken von Praktiker*innen im Forschungsprozess des Projekts Distanz rekonstruiert werden: Commitment, Expertise und Advocacy. Commitment ist charakterisiert durch eine emotionale und tendenziell entgrenzte Beziehungsarbeit zu Klient*innen, in der ein organisationaler Rahmenverlust bei der Überwindung des zuvor erwähnten Spannungsverhältnisses zwischen Norm und authentischem Umgang mit Klient*innen stattfindet. Die zwischenmenschliche Erfahrung steht im Vordergrund.

Konträr dazu steht die Handlungslogik der Expertise. Sie zeichnet sich durch einen klaren Sachbezug aus; die Rollenbeziehung ist eindeutig festgelegt. Es herrscht jedoch ein tendenziell machtstrukturierter Diskurs und der Erfahrens- bzw. Interaktionsraum zwischen Praktiker*in und Klient*in ist wenig flexibel.

Praktiker*innen, die nach dem Prinzip der Advocacy handeln, sehen sich in erster Linie als Interessenvertreter*innen und Verbündete ihrer Klient*innen. Der Vertrauensaufbau sowie die Beziehungserfahrungen stehen im Vordergrund. Der professionelle Rahmen wird eingehalten, indem eine strukturierte Praxis der Problembearbeitung verfolgt wird.

Im Fazit stellte Bösing heraus, dass die letztgenannte Handlungspraxis am ehesten an aktuelle Erkenntnisse aus der Deradikalisierungsforschung anschlussfähig ist. Die Themen Vertrauen, Raum für Veränderung, Angebote für alternative Erfahrungen etc. sind Aspekte, die hier Beachtung finden. Zum Abschluss plädierte Bösing für eine kritisch-reflexive Praxis, die aus einer sozialarbeitswissenschaftlichen Perspektive weiter untersucht werden sollte.

Verortung der Präventionspraxis in der Sozialen Arbeit

An diesem letztgenannten Punkt setzte der Beitrag von Dennis Walkenhorst an, der die viel zitierte Multiprofessionalität in der Präventionsarbeit als Gewinn betrachtet. Er merkte jedoch an, dass Praktiker*innen Bezüge zu Theorien, Methoden und Konzepten nicht systematisch herstellen würden, die in der Sozialen Arbeit zwar nicht explizit für diesen Bereich ausgewiesen sind, jedoch abgeleitet werden können. Aufgrund der steten Evaluation von Ausstiegs- und Distanzierungsarbeit finde eine Professionalisierung des Handlungsfeldes statt, aus der Qualifizierungsprozesse entstehen und gemeinsame Standards für die Fachpraxis entwickelt werden.

Für den Phänomenbereich des religiös begründeten Extremismus sieht Walkenhorst hingegen eine problematische Multiprofessionalität, aufgrund eines „Patchwork-Wissens“ anstatt einer sozialarbeiterischen oder sozialpädagogischen Ausbildung. Dies gehe oft einher mit einem Nachqualifizierungsbedarf. Fehlendes Wissen kann hierbei dazu führen, dass genutzte sozialarbeiterische Konzepte nicht als solche identifiziert werden und somit eine professionelle Entkopplung stattfindet, die einen Wissensaustausch erschwert. Deshalb sei es nötig, dass Praktiker*innen sich von Grund auf innerhalb der Sozialen Arbeit verorten. Diese Selbstverortung ist vor allem in Zusammenarbeit mit staatlichen Institutionen notwendig, um eine systematische Formalisierung der Zusammenarbeit zu erreichen. Dies sei besonders in der Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden von besonderer Bedeutung.

Resonanz als Handlungsprinzip für Präventionspraktiker*innen

Juliane Kanitz und Harry Guta diskutierten das Konzept der Resonanz des Soziologen Hartmut Rosa und beschrieben damit ein Handlungsprinzip sowie die erwünschte Haltung von Tertiärpräventionspraktiker*innen. Resonanz entsteht bspw. in einem Gespräch zwischen zwei Menschen, das im positiven Sinn unvorhersehbar, überraschend, inspirierend ist und dadurch bedeutsam wird. Es entsteht das Gefühl der Selbstwirksamkeit und ist ein Maßstab für einen gelingenden Alltag. Als Gegenteil von Resonanz wird die Entfremdung verstanden, die bspw. aufgrund von Angst, Wut oder Ekel entstehen kann. Bei dem Versuch, langanhaltende Entfremdungsgefühle zu überwinden, werden u. a. sog. Resonanzanker oder Resonanzoasen geschaffen, die negative Gefühle auf kurze Sicht abmildern, wie bspw. durch Drogenkonsum. Eine weitere, vermeintlich langanhaltende Strategie kann die Hinwendung zu autoritären Strukturen darstellen, die Radikalisierungsprozesse auslösen können.

Die Radikalisierung ist dabei als Reaktion auf alltäglich empfundene Antipathie zur Umwelt aufgrund von Entfremdungswahrnehmungen zu verstehen. Weltgeschehnisse werden mit den eigenen bzw. übernommenen autoritären und unwidersprochenen Ansichten interpretiert. Ein inspirierender Dialog bzw. ein lehrreicher Austausch mit Menschen anderer Weltanschauungen wird dabei unterdrückt. Wenn die Hinwendung zu Autoritarismus in einem sozialen Umfeld geschieht, das der entfremdeten Person Zuneigung schenkt, entsteht eine vorgetäuschte Resonanz, bei der die bspw. gruppenbezogene menschenfeindliche Überzeugung zementiert wird. Grundsätzlich sei Radikalisierung austauschbar mit Sucht, die eine häufige Umgangsstrategie mit Entfremdung darstellt. Die Hinwendung zu Autoritarismus kann als Sucht betrachtet werden, da er vermeintlich klare Ziele, Vorgaben und Bewältigungsstrategien in einer komplexen Welt voller Widersprüche bietet. Die wahren Gründe für eine Entfremdung werden somit verschleiert und der Bezug zu den eigenen Bedürfnissen gerät zunehmend in den Hintergrund.

Die Referent*innen plädieren im Sinne der Advocacy dafür, dass Fachpraktiker*innen Resonanzräume herstellen und Eskalationsdynamiken identifizieren sowie Deeskalationsstrategien erlernen müssen. Auch eigene biografische Wunden sollten Praktiker*innen kennen, um eine Beziehungsebene mit Klient*innen nicht durch resonanzstörende Aussagen oder Reaktionen zu gefährden. Da es sich beim Gespräch mit Klient*innen um ein langsames Herantasten handelt, bei dem die Interkation wechselseitig gestaltet werden soll, sei es notwendig, eigene Bewertungsmaßstäbe zurückzustellen und stattdessen in den Vordergrund zu stellen, was das eigentlich zu behandelnde Thema eines*einer Klient*in ist.

Gemeinsamkeiten und Fazit der Beiträge

Bei Betrachtung dieser Beiträge lässt sich feststellen, dass sie sich trotz der unterschiedlichen Themen in wesentlichen Punkten ähneln, die sich folgendermaßen zusammenfassen lassen: Präventionspraktiker*innen, Trainer*innen, Coaches sollen sich in der Sozialen Arbeit verorten und sich Grundlagenwissen aneignen. Das Grundlagenwissen umfasst jedoch nicht nur Methoden und Theorien der Sozialen Arbeit, sondern auch eine Handlungspraxis, die Qualitätsstandards folgend kontinuierlich Supervision, Intervision und Reflexionsräume (Weiterbildungen) umfasst, in denen das Handeln und die eingesetzten Methoden und Ansätze kritisch reflektiert und praxisorientiert erweitert werden. Dazu gehört z. B. eine machtkritische, genderreflektierte sowie intersektionale Reflexionsebene, für die immer wieder im Rahmen der Sozialen Arbeit und der Distanzierungsarbeit sensibilisiert werden muss (sowohl bei den Praktiker*innen als auch bei den Klient*innen).

Auf der Ebene der Handlungspraxis wird die Advocacy als die am besten geeignete Form des Umgangs mit Klient*innen empfohlen. Abgesehen davon, dass normierte Abläufe bewahrt werden, die bspw. im interdisziplinären Austausch nötig sind, findet hier eine empathische Klient*innenzentrierung statt, die auf Vertrauen und authentischer Beziehungsebene basiert. Diese Ebene lässt sich auch als Resonanzraum bezeichnen, dessen Prinzip durch Kanitz und Guta ausgeführt wurde. Resonanzräume zu schaffen bedeutet, das Spannungsfeld zwischen den Anforderungen der Rahmenbedingungen, der Anschlussfähigkeit an die Klient*innen und der eigenen Haltungen und Erwartungen in eine ausgewogene Balance zu bringen.

Zum Projekt:

RADIS – Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa

In der BMBF-Förderbekanntmachung „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ forschen zwölf Forschungsprojekte zu den vielen Facetten des Phänomenbereichs radikaler Islam: Welche Gründe lassen sich für das Erstarken islamistischer Tendenzen im deutschsprachigen und europäischen Raum identifizieren? Wie wirken islamistische Strömungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes? Und welche Schlüsse können aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit der Präventionspraxis, Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien gewonnen werden? Diesen und weiteren Fragen gehen Forschende vieler verschiedener Disziplinen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Blickwinkeln im Zeitraum von 2020 bis 2025 nach.