Dynamiken von Ressentiments in der Einwanderungsgesellschaft

Verstehen und transformieren

Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Violence Prevention Network

Ein im November 2024 in Berlin stattgefundener Transferworkshop unter dem Titel „Gefühlskulturen in der Einwanderungsgesellschaft – Positive und negative Affektlagen und wie gehen wir mit ihnen um?“ hat aufgezeigt, wie tief negative Emotionen in die sozialen Dynamiken eingreifen und welche Rolle Wissenschaftler*innen und Fachpraktiker*innen dabei spielen können, negative Affekte zu entschlüsseln und professionelle Strategien zu entwickeln, ihnen zu begegnen. Das Forschungsprojekt Ressentiment und Violence Prevention Network gGmbH waren im Rahmen des Projekts RADIS Gastgeber dieser Veranstaltung.

An der ganztägigen Veranstaltung haben dreizehn Wissenschaftler*innen und Fachpraktiker*innen aus dem RADIS-Forschungsnetzwerk, den Beratungsstellen von Violence Prevention Network gGmbH aus Hessen und Berlin, der Beratungsstelle Gewaltprävention in Hamburg, dem Berliner Quartiersmanagement High-Deck-Siedlung sowie der Halleschen Jugendwerkstatt gGmbH am Standort Magdeburg teilgenommen.

Die Wissenschaftler des Projekts Ressentiment stellten ihre Forschungsergebnisse vor, die sie aus der Auswertung von über hundert Interviews zu den Themen Islam in Deutschland, gesellschaftliche Teilhabe, Diskriminierung, Alltag und Identität schöpften. Es wurden ausschließlich Personen mit internationaler Geschichte befragt. Ziel der Interviews war es, die Gefühlslagen der Interviewten zu ergründen und wie sie sich vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen in Deutschland beschreiben. Im Transferworkshop wurden einzelne anonymisierte Interviewausschnitte präsentiert und mit den Teilnehmer*innen vertiefend diskutiert.

Ressentiment als möglicher Vorhersagefaktor für Radikalität

Die Arbeitshypothese war, dass eigene negative Erlebnisse, aber auch (zeitlich weit zurückliegende) negative Erfahrungsberichte der eigenen Verwandtschaft, Ressentiments erzeugen bzw. hervorrufen können. Der Begriff kommt aus dem Französischen und bedeutet, etwas Negatives immer wieder zu empfinden. Es geht dabei nicht nur um das bloße „Fühlen“ im Hier und Jetzt, sondern auch um das „Wiedererleben“ von negativen Empfindungen. Es besteht zusätzlich der Vorbehalt, zukünftig schlechte Erfahrungen zu machen. Eine differenzierte Wahrnehmung der erlebten negativen Situation wird somit erschwert.

Bei kollektiven Kränkungsgefühlen, wie bspw. antimuslimischem Rassismus, können aufgrund von solchen Generalisierungen Feindbilder entstehen. Um positive Selbstwertgefühle zu erreichen, braucht es fortan eine „böse“ Gegenseite, die abgewertet werden kann. Der Ärger wird auf ganze Menschengruppen, wie die Mehrheitsgesellschaft, übertragen und konzentriert sich nicht auf einzelne Handlungen von Individuen. Es entsteht eine „ressentimentale Dynamik“ aufgrund von kollektiven Pauschalisierungen.

Damit können Ressentiments ein Vorhersagefaktor für Radikalität darstellen, wenn diese Gefühle nicht adressiert werden. Es stellte sich im Transferworkshop für die Praxis somit die Frage, welche Wege aus einer solchen „Ressentimentlage“ herausführen können.

Mögliche Gratwanderung bei den Positionierungen

Anhand von drei Interviewbeispielen stellten die Wissenschaftler des Forschungsprojekts dar, dass die Interviewten bereits die erste Frage des Fragenkatalogs „Könnten Sie sich kurz vorstellen?“ mit dem Fokus auf die eigene internationale Geschichte beantworteten und diese als wesentlichen Bestandteil ihrer Identität markierten. Obwohl die Interviewten ihre Migrationsbiografie fokussierten, sind die Erzählweisen grundverschieden. So werden die eigene Erfolgsgeschichte fokussiert, die einprägenden (kränkenden) ersten Erfahrungen in Deutschland geschildert oder die eigene Biografie mit der Migrationserfahrung der Eltern beschrieben.

Die Art und Weise des Erzählens der eigenen Positionierung kann auf unterschiedliche Affektlagen hinweisen. So kann bspw. ein abstraktes Schwarz-Weiß-Denken entstehen, wenn vordergründig totalisierende Aussagen getätigt werden, wie: „Wir aus Nation A und ihr aus Nation B“ oder „unsere und eure Kultur“. Hierbei wird die eigene identitäre Verortung mit sich gegenüberstehenden abstrakten Begriffen umrissen. Daraus folgt aber nicht monokausal, dass solche abstrakten Beschreibungen automatisch auf Ressentiments schließen lassen. Es gibt unterschiedliche Affektlagen, die entscheidend dafür sind, ob sich unser Denken in Dichotomien manifestiert.

Neben der beschriebenen negativen Affektlage wurden im Workshop zwei weitere Typen von Affektlagen herausgearbeitet: Zum einen werden positive Affektlagen im Kontext der jeweiligen Migrationsbiografien deutlich, bei denen jede negative Erfahrung situationsbedingt und differenziert gedeutet wird. Negative Erfahrungen werden nicht generalisiert und diese folglich nicht auf die Mehrheitsgesellschaft übertragen. Zum anderen kann eine ambivalente Affektlage vorliegen, in der einerseits die eigenen negativen Erfahrungen im Alltag differenziert betrachtet werden. Andererseits wird eine negative Affektlagen aufgezeigt, indem bspw. in Hinblick auf außenpolitische Ereignisse, die nicht direkt die eigene Lebenswelt betreffen, pauschalisierende Weltansichten offenbart werden.

Perspektiven aus der Fachpraxis

Aus pädagogischer Perspektive gibt es Anknüpfungspunkte, diese Totalisierungen und Ambivalenzen herauszuarbeiten, starre Fixierungen auf die eigene Identität zu irritieren und konstruktive Umgangsweisen mit Rassismus- und Diskriminierungserfahren an konkreten Beispielen einzuüben. Unter gendersensiblen Aspekten sind hier auch (binär organisierte) Identitätskonstruktionen mitzureflektieren und pädagogisch aufzugreifen. Diese Punkte können erreicht werden, indem in erster Linie marginalisierte Personen bzw. Gruppen zur Selbstermächtigung ermutigt werden.

Deutlich wurde dies am Beispiel des Begriffs „Ausländer“, der bereits eine Kränkung hervorrufen kann, aufgrund der Wahrnehmung von Degradierung und fehlender Wertschätzung. Es stellte sich im Workshop die Frage, ob es auch zu einer Weitergabe von transgenerationalen Einstellungsmustern und Ressentiments kommen kann, die die Identität der Kinder beeinflusst. Hierbei wird ein Aufrechterhalten und eine Übertragung solcher negativen Affektlagen vermutet. Aus der Fachpraxis wurde dazu berichtet, dass die Personen immer jünger werden, für die in den Beratungsstellen angefragt wird. Es wird festgestellt, dass sie sich stärker auf ihre bzw. die ihnen vermittelte migrantische und/oder religiöse Identität besinnen, um das Gefühl einer Deutungshoheit und Selbstermächtigung in der Mehrheitsgesellschaft zu erlangen.

Hinsichtlich der potenziellen Radikalisierung wurden im Workshop u. a. die negative oder ambivalente Affektlage als Grund dafür gesehen, dass Gruppierungen wie Muslim Interaktiv überhaupt erst eine Anziehungskraft entfalten können. Die Gruppierung Hizb-ut-Tahrir sei in Deutschland deshalb nach wie vor so erfolgreich, da das Thema der Identität in Deutschland übermäßig fokussiert werde und Jugendliche stark beeinflusse. Dazu gehöre die Fixierung auf die Gegensätze religiös vs. nicht-religiös, was z. B. im Kontext Schule seitens der Lehrkräfte die Frage aufwirft, ob sich Schüler*innen radikalisieren, wenn sie ihre Religion in den Lebensmittelpunkt stellen. So wird u. U. eine Radikalisierung dieser Schüler*innen erst durch solche Mutmaßungen befeuert. Aus diesem Grund wurde von der Fachpraxis dafür plädiert, interkulturelle Kompetenzen beim Lehrpersonal (weiter) zu entwickeln, um dadurch Erfahrungsräume zu schaffen, in denen verschiedene Differenzebenen thematisiert werden können. Lehrkräfte sollten sich daher aktiv mit den Lebenssituationen ihrer Schüler*innen beschäftigen, um Vorurteile abzubauen und Mitgefühl zu entwickeln. So kann es gelingen, ein Erwartungsmanagement in diversen Kontexten wie Schule oder Arbeit zu betreiben, wo Aushandlungsprozesse fair und ohne Vorannahmen stattfinden. Der Vorschlag der aktiven Herangehensweise resultiert aus den Erfahrungen, dass Austauschformate, zu denen eingeladen wird, wenig besucht werden.

Zudem sollte aus Sicht der Fachpraktiker*innen berücksichtigt werden, dass bspw. von Diskriminierung betroffene Menschen nicht in einen doppelten Konflikt geraten sollten, indem sie selbst für das Thema sensibilisieren müssen. Es ist bedeutsam, in der Rolle als Berater*in zwischen einer Betroffenenperspektive und einer fachlichen Beratung zu Rassismus und Diskriminierung zu unterscheiden und für eigene „ressentimentale Dynamiken“ sensibilisiert zu sein.

Die anwesenden Berater*innen betonten, dass es in ihrer Arbeit wichtig sei, die Themen ihrer Klient*innen auf die alltägliche Ebene herunterzubrechen. Das werde erreicht, indem die ideologisierte und politische Ebene im Gespräch hinterfragt wird, um auszuloten, inwiefern bspw. globale Themen oder vermittelte und somit fremde Erfahrungen entscheidend für die Identitätsentwicklung sind. Ziel dabei ist, dass die Differenzebenen verschoben werden und eine praktische bzw. analytische Haltung eingenommen wird, in der gefragt wird, ob auch andere, also weniger pauschale Blickwinkel auf bestimmte Themen möglich sind.

Fazit und Ausblick

In einer abschließenden Feedback-Runde hoben die Teilnehmer*innen hervor, dass sie den Transferworkshop als bereichernd empfunden haben. Die Fachpraktiker*innen betonten, dass es in ihrem Arbeitsalltag wenig Raum für theoretische Impulse gäbe, sodass Arbeitsprozesse unhinterfragt abliefen. Diese Abläufe würden selten evaluiert, wodurch nicht ersichtlich würde, weshalb bestimmte Methoden funktionierten und andere nicht. Die theoretischen Impulse in Kombination mit Fallbeispielen hätten beim Thema Affektivität und Identität zum Denken „out of the box“ angeregt und die eigene Arbeit inspiriert.

Alle Teilnehmer*innen waren sich einig darüber, dass ein weiterer Transferworkshop zu diesem Thema angeboten werden sollte. Dabei wurde der Wunsch geäußert, dass die Fachpraxis vor allem aus ihrem Arbeitsalltag berichten solle, um die Erkenntnisse des Forschungsprojekts auf die jeweiligen Arbeitsbereiche zu übertragen. Aufgrund dieses Bedarfs wird Violence Prevention Network gGmbH in Zusammenarbeit mit dem Forschungsprojekt Ressentiment ein Curriculum entwickeln, dass sich u. a. mit der Frage befassen wird, wie Berater*innen der Distanzierungsarbeit die gewonnenen Erkenntnisse selbstreflexiv in ihre Arbeit aufnehmen können. Zudem werden Handlungsempfehlungen entwickelt, die hilfreich für den Ausbau der Biografiearbeit in Beratungssituationen sein können.

Zum Projekt:

RADIS – Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa

In der BMBF-Förderbekanntmachung „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ forschen zwölf Forschungsprojekte zu den vielen Facetten des Phänomenbereichs radikaler Islam: Welche Gründe lassen sich für das Erstarken islamistischer Tendenzen im deutschsprachigen und europäischen Raum identifizieren? Wie wirken islamistische Strömungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes? Und welche Schlüsse können aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit der Präventionspraxis, Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien gewonnen werden? Diesen und weiteren Fragen gehen Forschende vieler verschiedener Disziplinen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Blickwinkeln im Zeitraum von 2020 bis 2025 nach.