KN:IX Plus – Rückblick auf das islamistische Online-Milieu 2023/2024

Von Meryem Tinç und Luis Kreisel, unter Mitarbeit von Niklas Brinkmöller, Margareta Wetchy und Johanna West (Violence Prevention Network)

Durch das kontinuierliche Monitoring von Social Media-Kanälen aus dem islamistischen Milieu lassen sich Neuerungen, Entwicklungen und Trends beobachten. In den Jahren 2023 und 2024 haben sich im islamistischen Milieu in den Sozialen Medien Dynamiken verschoben, politische Diskurse sind hochgeflammt und Trends bestimmten die Reichweite von Akteur*innen. Gleichzeitig blieb inhaltlich vieles „beim Alten“; bekannte Narrative aus der islamistischen Szene mischten sich mit popkulturellen Ansprachen und Content-Formaten und erreichten teilweise hohe Aufrufzahlen. Die Geschwindigkeit, mit der Inhalte an junge Social Media-Nutzer*innen gelangten und die schiere Menge an Content ist durch Plattformen wie TikTok rasant gestiegen. Einige Akteur*innen waren dank dieser (technischen) Entwicklungen übermäßig präsent und haben an immenser Popularität gewonnen.

Im Folgenden blicken wir genauer zurück auf die letzten zwei Jahre: Wie hat sich die islamistische Szene auf Social Media verändert? Welche Narrative, Trends und Formate waren besonders erfolgreich? Und welche Erkenntnisse konnten wir aus den Untersuchungen ziehen?

1. Rückblick auf das islamistische Online-Milieu 2023/2024

1.1 KN:IX Trend mit wechselnden Schlaglichtern und populären Akteur*innen

Einige Akteur*innen, die im Monitoring beobachtet werden, behandeln eine große Bandbreite an inhaltlichen Schwerpunkten und Aktionsformen. Dabei geht es sowohl um explizit religiöse Inhalte, d. h. „theologische“ Fragen, als auch um lebensweltliche Bezugspunkte, wie z. B. Beziehung, Genderrollen, Jugendthemen, Diskriminierung usw. Die Vermischung von beidem, also die Bewertung lebensweltlicher Themen unter der als normativ verstandenen Auslegung der Religion kann als USP islamistischer Akteur*innen gewertet werden. Die Aufbereitung solcher Inhalte in den vergangenen Jahren hat jedoch in neueren, plattformspezifischen und popkulturellen Formaten stattgefunden. Vor allem auf der Videoplattform TikTok, aber auch auf Instagram oder YouTube-Shorts werden regelmäßig und in hoher Menge Kurzvideos hochgeladen, die Fragen von Follower*innen zu religiösen Themen abstrakt beantworten.

DMG Braunschweig

Einer der dafür bekanntesten Kanäle ist die DMG Braunschweig, bei der mehrere (altbekannte) „Prediger“ religiöse Handlungsanweisungen bzw. eine salafistische Auslegung der islamischen Religion erörtern. Auf TikTok erscheint der Kanal als ein Katalog für dichotome „Ja/Nein“-Antworten, die es im Alltag zu beachten gilt. Im Juni 2024 wurde die DMG Braunschweig vom niedersächsischen Innenministerium verboten, woraufhin der Kanal auf den verschiedenen Social Media-Plattformen verschwand. Kurz darauf erschienen die Inhalte der DMG Braunschweig allerdings wieder auf anderen Kanälen.

Viele der Kurzvideos sind Ausschnitte längerer YouTube-Videos. So lassen sich aus einem Vortrag mehrere Content-Beiträge für z. B. TikTok oder Instagram generieren. Gleichzeitig werden dadurch Online-Offline-Synergien geschaffen, da die Vorträge meist vor realem Publikum stattfinden, gefilmt und anschließend im virtuellen Raum geteilt werden. Die auf den Social Media-Plattformen geteilten Beiträge führen wiederum zu erhöhter Reichweite und bewerben die Offline-Auftritte der Prediger. Beispielsweise veröffentlichte der bekannte salafistische Prediger Abul Baraa auf YouTube einen Vortrag von knapp anderthalb Stunden mit dem Titel „Die Jugendlichen und die Fitna!” (Bild 1) und auf seinem TikTok-Kanal einen 50-sekündigen Ausschnitt daraus, untermalt mit schnellen Schnitten, düsteren Filtern und Bildern (Bild 2). Dabei wurde ein Ausschnitt gewählt, bei dem der Prediger über sog. „Talahons”[1] spricht.

Bild 1: Abul Baraa Tok (@abulbaraatok) | TikTok

Bild 2: Abul Baraa Tube; Die Jugendlichen und die Fitna! | YouTube

Ibrahim al-Azzazi

Besonders reichweitenstark fiel in den letzten Jahren auch der Akteur Sheikh Ibrahim auf, der plakative und jugendaffine Fragen (z. B.: „Mag Sheikh Ibrahim Dragon Ball Z?“) in kurzen Videos beantwortet, wobei der Hintergrund via Green Screen visuell der jeweiligen Frage angepasst wird (Beispiel: Dragon Ball Z im Hintergrund). Anders als „klassische“ lange Vorträge auf YouTube, wie man sie von der salafistischen Szene der letzten 15 Jahre kennt, passen sich solche Kurzvideos der Videoplattform TikTok an und werden über Algorithmen in die Feeds, also die kuratierte Videoauswahl der Follower*innen, aber auch Nicht-Follower*innen, gestreut.

Abdelhamid

In den Jahren 2023 und 2024 erhielt der Akteur Abdelhamid[2] im Rahmen des Monitorings Relevanz, da er sich sowohl als Influencer als auch als Prediger („Predigencer“) inszenierte. Kurz nach dem Aufheben der Einschränkungen während der Corona-Pandemie war Abdelhamid auf „Moschee-Tour“ in mehreren deutschen Städten und hat durch seinen „Influencer“-Status bzw. das Online-Bewerben seiner Auftritte viele Jugendliche erreicht. Seit Januar 2023 ist Abdelhamid als Akteur auf TikTok aktiv und seitdem einer der führenden „Prediger“ der digitalen islamistischen Szene. Im Monitoring zeigte sich ein deutlicher Anstieg von Abruf-, Like- und Kommentarzahlen seiner Beiträge. Von März bis September 2024 führten seine Videos die Liste der meistgesehenen Beiträge auf TikTok im KN:IX-Monitoring deutlich an. Erst seit seiner Festnahme im Oktober 2024 sind die Zahlen zurückgegangen – seitdem hat es keine neuen Beiträge dieses Akteurs mehr gegeben. Allerdings lassen sich unter seinen Beiträgen Solidaritätsbekundungen und Misstrauen gegenüber den Sicherheitsbehörden finden, in denen die Rechtmäßigkeit der Haft angezweifelt wird. Sein „Erfolgsrezept“ ist vor allem seine jugendaffine Sprache und die Themensetzung, die religiöse Fragen meist aus der Lebenswelt Jugendlicher aufgreift. Er inszeniert sich als großer und fehlbarer „Bruder“, als „einer von uns“ und zugleich als religiöse Autorität. Dabei fällt Abdelhamid in seinen Beiträgen immer wieder durch misogyne Geschlechterkonstruktionen und eine salafistische Auslegung der islamischen Religion auf.

Prediger und Popkultur

In den Jahren 2023/24 konnten zunehmend popkulturelle Bezüge und Interaktionen von islamistischen Akteur*innen mit Influencer*innen beobachtet werden[3]. Damit werden feldrelevante Akteur*innen in weiten Kreisen auf Social Media rezipiert und spielen auch außerhalb ihrer Follower*innenschaft eine Rolle. Die Vermischung von (verknappten und aufgeladenen) theologischen Diskussionen und „Predigten“, die Abwertung anderer religiöser Gruppierungen und die Inszenierung von Streitgesprächen sind ein Ausdruck davon, wie hybride Social Media-Interaktionen und Auseinandersetzungen auftreten können. Viele der im Monitoring beobachteten Akteur*innen interagieren (in)direkt mit nicht-feldrelevanten Influencer*innen, z. B. in Live-Streams oder Reaction-Videos. Inwiefern dabei die inhaltlichen Positionen bzw. Interessen im Rahmen dieser Interaktionen deckungsgleich sind, ist zunächst von nachrangiger Bedeutung. Für feldrelevante Akteur*innen, wie bspw. Abdelhamid und Abul Baraa, lässt sich neben der Generierung zusätzlicher Reichweite auch annehmen, dass eine Verteidigung ihrer Person und Position durch bekannte Personen, wie Arafat Abou-Chaker zu einer Anschlussfähigkeit bei den Rezipient*innen führen könnte, die ansonsten keine Berührungspunkte mit ihren Inhalten hätten.

Zudem orientierte sich der Content islamistischer Akteur*innen am Mainstream, z. B. durch die Übernahme von viralen Formaten wie bspw. Reaction-Videos[4]. Die Bezugnahmen auf Themen, Begriffe und Influencer*innen, die virale Aufmerksamkeit genießen, verdeutlicht eine Kommunikationsstrategie, die die Lebenswelt junger Menschen in den Mittelpunkt stellt. Die erzielten Reichweiten sprechen zumindest für einen Teilerfolg dieses Vorgehens. Auch wenn Reichweite nicht automatisch mit Zustimmung übersetzt werden kann, ist eine möglichst weite Verbreitung der Inhalte im Sinne der Akteur*innen.

Politik und Aktivismus

Über das Aufgreifen aktueller politischer Ereignisse und Nachrichten (Beispiele: Tauhid-Finger[5], Abaya-Verbot [6] an französischen Schulen etc.) inszenieren sich Akteur*innen, wie Generation Islam, Muslim Interaktiv und Realität Islam. Ihre Content-Beiträge in Form von pseudo-journalistischen Videos, die an seriöse Nachrichtenformate erinnern sollen, lassen die Akteur*innen wie „Korrespondenten“ der Muslim*innen wirken (wobei das homogene Bild der Muslim*innen von ihnen selbst gezeichnet wird). Anders als bei etablierten Medien, setzen die Akteur*innen ihre eigenen bekannten Narrative in Verbindung mit den Ereignissen, über die sie „berichten“. So analysieren die Akteur*innen beispielsweise den Nahost-Konflikt, den Fall Assads oder die aktuelle Waffenruhe in Gaza stets mit einer Folie dichotomen Denkens – der „Westen“ gegen die „Muslim*innen“. Die Akteur*innen sind dabei nicht unkreativ. Generation Islam gibt z. B. den Pressespielgel „Muslim Insider“ heraus, der optisch an den „SPIEGEL“ erinnert, inhaltlich jedoch eine Langversion altbekannter Narrative ihrer Instagram-Beiträge ist.

Zugleich lassen sich auch Änderungen in der Content-Strategie wahrnehmen, wie Generation Islam zeigt. Hier wurde nach dem 7. Oktober 2023 vermehrt zu Demonstrationen aufgerufen. Diese nahmen Hizb ut-Tahrir-nahe Gruppierungen wie Muslim Interaktiv und Generation Islam zum Anlass, eigene Narrative von der „Assimilationsagenda“ mit Solidarität zu Palästina zu vermischen. Einige der auf den Demos entstandenen Videos erreichten auf TikTok hohe Reichweiten. Die Bewerbung der Demonstrationen erfolgte auf den Social Media-Kanälen der Akteur*innen und ermutigte die Follower*innen dazu, sich aktivistisch zu beteiligen. Zudem wurde die Ankündigung der Demonstration im Juni in Hannover verknüpft mit einem Totengebet für die Ermordeten in Gaza und gemeinsamen Bittgebeten (Bild 3). Durch die religiöse Rahmung der Demonstration erwirkten die Akteur*innen von Generation Islam einen weiteren Attraktivitätsmoment für viele junge Follower*innen, die ihre Solidarität mit Palästina und zugleich ihre Trauer über die Geschehnisse vor Ort mit der Demonstrationsteilnahme teilen konnten. Über Aktionen wie diese erreichten die Akteur*innen ein breites Publikum, da damit die Bedürfnisse vieler junger Muslim*innen angesprochen wurden. Gleichzeitig zeigt sich, dass die Akteur*innen diese Bedürfnisse gezielt ansprechen, um sie für das Verbreiten der eigenen Narrative zu nutzen.

Bild 3: 12.06.2024; Generation Islam: https://www.instagram.com/p/C8Hp1-DIIYs/

Plattformdynamiken erfolgreich nutzen

Im Monitoring war bemerkbar, dass TikTok von den beobachteten Plattformen (Instagram, YouTube, TikTok) hinsichtlich der Follower*innenzahlen die dynamischste ist. Die Entwicklung von Abonnent*innen bzw. Follower*innen auf YouTube und Instagram erscheint im Vergleich dazu eher statisch. Häufig konnte beobachtet werden, dass die Abonnent*innenzahlen von Accounts infolge viraler Kurzvideos dauerhaft anstiegen.

TikTok-Inhalte zeigten sich besonders reichweitenstark. Auf YouTube zeichnete sich 2024 ab, dass insbesondere YouTube Shorts, die in ihrer Machart stark an TikTok-Videos erinnern, ebenfalls höhere Abrufzahlen im Vergleich zu den mehrminütigen regulären Videos erzielten.

Einzelne Akteur*innen, wie bspw. Abdelhamid, waren konstant in den Top 5 der meistgeklickten Videos auf KN:IX Plus vertreten und wuchsen kontinuierlich an. Bei Abu Mikail ließ sich ein sprunghafter und signifikanter Anstieg der Follower*innenzahl beobachten, dem jedoch eine genauso plötzliche Halbierung folgte. Diese außergewöhnlichen Schwankungen stellten kein natürliches Kanalwachstum dar und deuten auf eine Manipulation durch gekaufte Follower*innen bzw. Bots hin. Das zeigt, wie wichtig den Akteur*innen die Maximierung ihrer Online-Reichweite ist und wie sie gezielt versuchen, die Dynamiken der Plattformen und ihrer Algorithmen für sich zu nutzen.

Bei Muslim Interaktiv (MI) konnten im vergangenen Jahr hybride Entwicklungen in Form wechselseitiger Beeinflussungen ihrer offline und online Zugänge beobachtet werden. Einem aufgedeckten „Geheimtreffen“ von MI in Hamburg folgte eine intensive Berichterstattung über MI und ihren Sprecher Raheem Boateng. Im Monitoring konnte anschließend mindestens eine zeitliche Koinzidenzzwischen der medialen Aufmerksamkeit und einem Anstieg der Follower*innenzahl der Accounts von MI und Raheem Boateng festgestellt werden.

Ausdifferenzierung der islamistischen (Online-)Szene

Die schon seit längerem zu beobachtende Ausdifferenzierung des islamistischen Milieus zeigte sich auch 2024 in Form verschiedener Kontroversen und Konflikte innerhalb der Szene. Unter den (bekannten) Akteur*innen fanden oberflächliche Anfeindungen und teilweise auch inhaltliche Auseinandersetzungen statt. Beispielsweise distanzierte sich Marcel Krass, der aufgrund seiner hohen Reichweite und Feldrelevanz noch im Rahmen des Monitorings beobachtet worden ist, in mehreren Videos von der salafistischen Szene. Die Inhalte von Krass sind inzwischen von der salafistischen Szene abzugrenzen und werden von dieser immer wieder aufgegriffen und abgewertet. Die verbotene DMG und die mit ihr assoziierten Prediger waren 2024 online immer wieder in Konflikte mit Akteur*innen aus einem takfiristischen Spektrum[7] verwickelt. In diesen Auseinandersetzungen warfen sich die Beteiligten mangelhafte theologische Ausbildung sowie die falsche Interpretation und Anwendung von religiösen Konzepten vor. Im Kern stand dabei häufig die Frage nach dem Ausschluss von Muslim*innen aus dem Islam aufgrund inkonsequenter Glaubenspraxis. In diesen Auseinandersetzungen wurde die Heterogenität des salafistischen Spektrums und damit auch die Existenz radikalerer Akteur*innen abseits des Mainstreams sichtbar.[8]

Auch die bestehenden Differenzen zwischen salafistischen Akteur*innen und dem Spektrum der Hizb ut-Tahrir (HuT) nahestehender Gruppen wie Muslim Interaktiv traten öffentlich zu Tage. Eine Demonstration von MI gegen vermeintliche Zensur wurde durch Abul Baraa scharf kritisiert, in dem er die Veranstalter als Teil einer irregeleiteten Sekte bezeichnete. Neben den real existierenden Differenzen zwischen salafistischen Glaubensauslegungen und dem Islamverständnis HuT-naher Akteur*innen liegt der Verdacht nahe, dass die öffentlichkeitswirksamen Demonstrationen HuT-naher Akteur*innen als Konkurrenz aufgefasst wurden, da dem salafistischen Spektrum vergleichbare Aktionen schon seit Jahren nicht mehr gelungen sind.

1.2 KN:IX Kontext über anhaltende und unveränderliche Narrative und Erkenntnisse für die Präventionsarbeit

Im Format KN:IX Kontext wurden anhaltend virulente Narrative aus der islamistischen Szene auf Social Media untersucht und eingeordnet. Die Akteur*innen greifen aktuelle und lebensweltnahe Themen ihrer Rezipient*innen auf und setzen Bezugspunkte zur Be- und Abwertung, indem sie Feindbilder bedienen und eine unterkomplexe Schwarz-Weiß-Sicht auf diese Themen etablieren. Das kontinuierliche qualitative Monitoring ermöglichte es, Wiederholungen, Rezeptionen und Muster zu erkennen. Das Verstehen von Erzählungen und ihre (interdisziplinäre) Kontextualisierung soll der Praxis und Wissenschaft dabei helfen, die Hintergründe, Motive und theologischen Bezüge islamistischer Online-Akteur*innen nachzuvollziehen. Hier geht es nicht nur um die gezielte Verbreitung dieser Erzählmuster; sie sollen für ihre Adressat*innen als normativ, d. h. verpflichtend betrachtet werden. Zugleich zeigte sich, dass einige Erzählungen durchaus „trenden“ und in bestimmten zeitlichen Rahmen vermehrt reproduziert werden. Dabei beeinflussen offenbar (geo-)politische Ereignisse die Gewichtung bzw. Bedeutung von Narrativen einiger Akteur*innen aus dem islamistischen Milieu.

Diese anhaltenden und altbekannten Narrative weisen klassische Merkmale und Funktionenweisen radikalisierender Ansprachen auf. Die Akteur*innen inszenieren sich als religiöse Autoritäten und beanspruchen die alleinige Deutungshoheit über die angesprochenen Themen. Zudem präsentieren sie ihre Positionen als unangefochtene Wahrheit. Damit gehen Misstrauen und Abwertung gegenüber abweichenden Perspektiven einher. Insbesondere westliche Medien, Politiker*innen und als Gegenideologien verstandene Konzepte, wie dezidiert liberale Islamauslegungen oder Feminismus, werden so zu Feindbildern stilisiert. Dadurch entsteht ein Gemeinschaftsgefühl nach innen, bei gleichzeitiger Abgrenzung und Abwertung nach außen.

Zur Verdeutlichung: Misogynen Ansprachen, wie wir sie im KN:IX Kontext „Misogynie im radikalen bis islamistischen Spektrum auf Social Media“ analysiert haben, liegt ein binäres Geschlechterbild zugrunde mit klar definierten patriarchalen Rollen- und Verhaltenserwartungen. Einer Out-Group zugeschriebene Lebensweisen werden letztlich als Ursache für den Niedergang einer romantisch verklärten Vergangenheit verantwortlich gemacht, in der das Geschlechterverhältnis noch den vermeintlich islamischen Regeln entsprach.

Die Hijra[9] folgt im Denken der Akteur*innen den vorangegangenen Punkten schließlich als letzter logischer Schluss. Gesellschaften, in denen die geltenden Normen nicht mit dem Islamverständnis radikaler Akteur*innen in Einklang zu bringen sind, entsprechen dem Feindbild und werden als Hürde für ein vermeintlich frommes Leben angesehen. Die Auswanderung in ein mehrheitlich muslimisches Land wird dementsprechend als einzige Lösung gesehen, um sich den vermeintlich religionsfeindlichen Einflüssen und der rassistischen Islamfeindlichkeit zu entziehen und ein frommes Leben zu führen. Dieses Vorgehen haben wir im KN:IX Kontext „Hijra oder Heimat?“ beschrieben. Die Narrative werden mit starken Emotionen wie Wut, Angst und Scham verknüpft, um mögliche Vorerfahrungen der Rezipient*innen anzusprechen und Handlungsdruck zu erzeugen.

Narrative entzaubern

Die Kontextualisierung wiederkehrender Narrative im islamistischen Online-Milieu unterstützt Praktiker*innen, Multiplikator*innen und andere Fachkräfte dabei, ihre möglichen Motive, theologischen und historischen Begründungen und lebensweltlichen Bezüge für die Arbeit mit Klient*innen „herunterzubrechen“ bzw. verständlich zu machen. Geschlossene Narrative bilden jedoch nur einen Teil des ideologischen Nährbodens ab. Nicht alle Rezipient*innen islamistischer Accounts übernehmen Narrative oder stimmen gar mit diesen überein. Deshalb ist es umso wichtiger, die theoretischen Betrachtungen von Social Media-Inhalten mit praktischen Einordnungen aus der Klient*innen-Arbeit zu verknüpfen.

Im Rahmen des Social Media-Monitorings islamistischer Inhalte gilt es immer, die Gefahr einer Stigmatisierung von Personen(-gruppen) zu reflektieren. Gerade weil der Begriff Islamismus nicht immer trennscharf verwendet wird und die Prävalenz von antimuslimischem Rassismus erwiesen ist. Einerseits ist die binäre Einschätzung von Kanälen als (nicht-)islamistisch schwierig, insbesondere, wenn sich Accounts in Graubereichen bewegen. Andererseits handelt es sich bei Social Media-Daten, auch wenn sie öffentlich zugänglich sind, um persönliche Daten, die vorsichtig und nach forschungsethischen Prinzipien behandelt werden müssen. Für das Einordnen von Akteur*innen muss daher vor der Aufnahme neuer Accounts ins Monitoring ausführlich der inhaltliche Mehrwert gegenüber etwaigen Risiken (Stigmatisierung, Reichweitensteigerung etc.) abgewogen werden.

Beispielsweise werden ausschließlich öffentlich zugängliche Inhalte in das Monitoring übernommen, d. h. private Profile oder Gruppen sind davon ausgeschlossen. Damit kann ein Großteil islamistischer Inhalte nicht mit in die Betrachtung einbezogen werden. Außerdem wurden keine Akteur*innen, bei denen erkennbar ist, dass sie nicht volljährig sind, in das Monitoring aufgenommen. Eine weitere Herausforderung im Monitoring bleibt die Kurzlebigkeit einiger Inhalte, wie z. B. „Frauenkanäle“ (siehe Violence Prevention Network Schriftenreihe „Die unsichtbaren Schwestern“) und Instagram-Stories (die nach 24h nicht mehr verfügbar sind).

Ausblick

Mit dem Wandel des Feldes islamistischer Ideologien und ihren Reproduktionsmöglichkeiten wird die Wissenschaft vor immer neue Herausforderungen gestellt. Die Sozialen Medien werden auch zukünftig Teil extremistischer Milieus bleiben – die Aufgabe der Wissenschaft besteht darin, sich neue Erkenntnisse anzueignen und den Austausch mit der Praxis zu verstärken. Die steigende Medienkompetenz von Akteur*innen und die Content-Formate, die von den unterschiedlichen Plattformen zur Nutzung angeboten werden, erfordern auch für die wissenschaftliche Einordnung Expertise über digitale Tools. Gleichzeitig wird deutlich, dass in der Auseinandersetzung mit extremistischen Gruppierungen eine faktenbasierte, präzise und strukturierte Auseinandersetzung notwendig ist, um diesen Akteur*innen mit der erhöhten Aufmerksamkeit nicht mehr Reichweite, Sichtbarkeit und Momentum zu verschaffen. Sowohl die Wissenschaft als auch Medienhäuser müssen Risiken und Nutzen abwägen, wenn sie über Akteur*innen informieren.

In der Rückschau fällt besonders die Heterogenität und Dynamik des Phänomenbereichs auf. Akteur*innen unterschiedlicher Spektren bedienen altbekannte sowie tagesaktuelle Themen und verbinden diese mit ihren Narrativen, um ihre Positionen zu verbreiten. Zugleich profitieren sie von den technischen Gegebenheiten der Plattformen und gezielter Kommunikation. Die Inhalte werden entsprechend der Formate und Algorithmen der Plattformen angepasst, sodass schnell geschnittene Kurzvideos mit ausführlichen Mitschnitten von Vorträgen an verschiedenen digitalen Orten koexistieren. Die Inhalte selbst werden emotional aufgeladen und bedienen Themen aus der Lebenswelt der Rezipient*innen, wodurch sich insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene angesprochen fühlen.

Gesellschaftlich lässt sich eine zunehmende Polarisierung beobachten, die anhand wiederkehrender Debatten greifbar wird. Themen wie Migration, der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine oder der eskalierende Nahost-Konflikt sorgten in der Öffentlichkeit on- und offline für aufgeladene Diskussionen bis hin zu gewalttätigen Ausschreitungen. Extremistische Positionen finden so vermehrt Anklang in der Breite der Gesellschaft. In diesem soziopolitischen Kontext bekommen auch islamistische Akteur*innen Aufmerksamkeit und Zuspruch, wie das KN:IX Plus Monitoring des vergangenen Jahres anhand quantitativer Daten zeigen konnte.

Das Monitoring erfüllt damit eine wichtige Funktion für die Erkennung von inhaltlichen Trends und Kommunikationsstrategien – aktuell und über einen längeren Zeitraum. Damit leistet es einen wertvollen Beitrag, um die äußerst dynamischen Entwicklungen innerhalb des Phänomenbereichs greifbar zu machen.

2. Weitere Publikationen zum Thema „Monitoring“

Für weitergehende Erkenntnisse aus dem Feld des (Islamismus-)Monitorings empfehlen wir folgende Publikationen:

modus | zad – Zentrum für angewandte Deradikalisierungsforschung gGmbH & Bundeszentrale für politische Bildung: Basismonitoring der Peripherie des religiös begründeten Extremismus:  https://modus-zad.de/schwerpunkte/monitorings-trendanalysen/basis-monitoring-2022-23/

BAG »Gegen Hass im Netz«: „Machine against the Rage“ – Monitoring zu Online-Hass https://machine-vs-rage.bag-gegen-hass.net/

CeMAS – Center für Monitoring, Analyse und Strategie: Monitoring von Verschwörungs­ideologien, Antisemitismus und Rechtsextremismus https://cemas.io/

Violence Prevention Network gGmbH:


[1] Der Begriff bezeichnet Jugendliche mit (zugeschriebener) arabischer Migrationsgeschichte. Er kommt aus der Jugendsprache und wird als Eigen- oder Fremdzuschreibung genutzt. Der Begriff transportiert Stereotype und sollte daher kritisch betrachtet werden.

[2] Aktuell befindet sich Abdelhamid in Untersuchungshaft: https://www1.wdr.de/nachrichten/rheinland/duesseldorf-festnahme-islamisten-prediger-100.html

[3] Bspw. Auftritte des Rappers Brado bei Botschaft des Islam, Ibrahim al-Azzazi im Interview bei YouTuber Sharo, TikToker Barello in Auseinandersetzung mit Abdelhamid, sowie gemeinsame Livestreams von Pierre Vogel und Arafat Abou Chaker, vgl: Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (Hg.) (2024): Lagebild Islamismus, S.23, online: https://polizei.nrw/sites/default/files/2024-05/lagebild_islamismus_2023_ansicht.pdf, zuletzt eingesehen am 18.03.2025.

[4] Bei Reaction-Formaten stehen die zur Schau gestellten Emotionen der reagierenden Person im Vordergrund, was in besonderem Maße zu einer Identifikation und Interaktion bei den Rezipient*innen führt.

[5] Die Geste, bei der der Zeigefinger Richtung Himmel gestreckt wird, soll bezeugen, dass es nur einen Gott gibt, der angebetet werden darf.  Das Tauhid-Konzept wird daher auch als Monotheismus verstanden. 

[6] Bei der Abaya handelt es sich um ein Kleidungsstück für Frauen, das als Überkleid über der restlichen Kleidung getragen wird. Häufig wird es mit einem Kopftuch oder, seltener, mit einem Gesichtsschleier kombiniert.

[7] Der takfir ist die Praxis der Exkommunizierung aus der Religion. Die dafür notwendigen Voraussetzungen sind in den salafistischen Spektren höchst umstritten.

[8] Vgl. hierzu ausführlicher: Tabti, Samira & Scheeres, Annika (2024): Salafismus im Netz – Wettstreit um mediale Präsenz oder theologische Deutungshoheit? Kompetenznetzwerk islamistischer Extremismus Analyse (16), online: https://kn-ix.de/publikationen/analyse-16/, zuletzt eingesehen am 18.03.2025.

[9] Hijra beschreibt im Koran die Auswanderung Muhammads aus Mekka nach Medina, analog dazu wird der Begriff heute gebraucht, um die Auswanderung aus einem Land, in dem vermeintlich unislamische Werte und Normen gelten, zu beschreiben. Ziel der Ausreise sollte demnach ein Land sein, in dem diese Werte und Normen verwirklicht sind oder in dem zumindest nach ihnen gelebt werden kann.