Von Peter Anhalt (Violence Prevention Network)
In unserer Arbeit mit rechtsextremistischen Gewaltstraftätern[1] haben wir es fast immer auch mit dem Phänomen Hass zu tun, weil rechtsextreme Gewalt oft verbunden ist und angetrieben wird von einem tiefen Hass.
Daneben arbeiten wir mit Menschen, die wegen Hassgewalt verurteilt worden sind, wo also der innere Hass handlungsleitend ist und nicht vordergründig die extremistische politische Einstellung. Um die Arbeit mit diesen Menschen machen zu können, müssen wir sie und ihren Hass ein Stück weit verstehen.
Nach dem Philosophen Karl Jaspers (1883 – 1969) gilt: „Wenn ich etwas verstanden habe, dann habe ich mich einer Interpretation angeschlossen.“ Das bedeutet, ich habe nie die Wahrheit verstanden, sondern nur einen Ausschnitt. Es ist also sinnvoll, sich verschiedene Interpretationen anzuschauen und sich diesen ggf. anzuschließen.
Das ist grundlegend wichtig in der Beratung. Wir Menschen sind komplexe Wesen, und je mehr Interpretationen ich kenne und je besser ich verstehe, warum Menschen so werden und sind wie sie sind, umso mehr „Beratungs-Raum“ habe ich, und einumso größerer Veränderungsrahmen ergibt sich daraus. Das gilt auch für den Hass in all seinen komplexen Dynamiken.
Im Folgenden möchte ich dazu Thesen formulieren, die sich aus der Arbeit mit diesen Menschen und der Reflexion darüber ergeben. Sie erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern laden zum Mit- und Weiterdenken ein.
These 1: Hass ist ein starkes menschliches Gefühl
Was auf den ersten Blick banal erscheint, lohnt, genauer betrachtet zu werden – Hass als ein starkes menschliches Gefühl.
Sicher ist es eines der stärksten Gefühle. Hass ist immer stark, leidenschaftlich und elementar, ein „leichter“ Hass ist kaum vorstellbar.
Hass ist menschlich, d. h. man könnte sagen, es macht uns zum Menschen, dass wir hassen können, wenn es auch ein sehr pessimistisches Menschenbild wäre.
Zum einen können Tiere nicht hassen und zum anderen ist hassen zu können nicht pathologisch, sondern ein normales, weil menschliches, Gefühl.
Hass ist ein Gefühl, das, wenn man Gefühle – wie man es üblicherweise tut – in Kategorien von positiv und negativ einordnet, zu den negativen zählt, was auch bedeutet, dass man es schnell als moralisch schlecht abwertet, aber:
- Moralische Wertungen verbieten sich bei Gefühlen. Hass ist nicht moralisch zu ächten, sehr wohl jedoch die Handlungen, die sich u. U. daraus ergeben – das ist ein Unterschied.
- Hinter jedem Gefühl stecken anerkennenswerte Wünsche und Bedürfnisse (Gefühle als Sprache der Seele), die anzuerkennen und zu verstehen, wichtig ist. Bei einem so starken Gefühl wie Hass muss es also um etwas gehen, das einem sehr wichtig ist, ohne dass das dem Betreffenden offenbar wäre.
- Man könnte annehmen, Hass wird deswegen als negatives Gefühl eingeordnet, weil man es nicht gerne empfindet, aber nicht jeder, der hasst, würde unterschreiben, dass er es als ein schlechtes oder negatives Gefühl empfindet – vgl. dazu These 5.
These 2: Wut und Hass sind unterschiedlich
Wut verraucht, Hass gärt.
Wut will verändern, Hass will zerstören.
Wer hasst, kann nicht mehr glauben, dass etwas veränderbar ist.
These 3: Hass wendet sich – vermeintlich – anderen zu und kehrt doch immer wieder zu einem selbst zurück
„Wenn wir einen Menschen hassen, so hassen wir in seinem Bild etwas, was in uns selber sitzt. Was nicht in uns selber ist, das regt uns nicht auf.”
(Hermann Hesse, Demian, 1919)
Der Andere, den ich hasse, interessiert nicht als der, der er ist, weil der Hassende nicht ihn sieht, sondern das eigene innere Bild, das er auf ihn projiziert. Der Hass „braucht“ den Anderen, braucht eine Adresse, an die er sich richten kann, weil er den Blick auf sich selbst nicht richten will.
Und so dämonisiert Hass; man will und kann den Anderen in seinem So-Sein nicht sehen, sondern man macht sich ein Bild von ihm. Das ist eine Schleife: die Adresse, die ich brauche, gestalte ich selbst.
Hass auf Andere und Selbsthass liegen dicht nebeneinander und bedingen sich – man kann sich kaum vorstellen, dass ein Mensch voller Hass zur Selbstliebe fähig ist.
These 4: Hass speist sich – sehr oft – aus biografischen Erfahrungen
„Wenn sich niemand zu uns umdrehte, wenn wir den Raum betreten;
Wenn niemand antwortete, wenn wir sprechen;
Wenn niemand wahrnähme, was wir tun;
Wenn wir von allen geschnitten und als nicht-existierend behandelt würden,
dann würde eine derartige Wut und ohnmächtige Verzweiflung in uns aufsteigen, dass im Vergleich dazu die grausamste körperliche Qual eine Erlösung wäre.“
(William James, 1842 – 1910, amerik. Philosoph und Psychologe)
In der Biografiearbeit mit unseren Klienten treffen wir immer wieder auf solche, zum Teil sehr frühe, Erfahrungen (Auswahl):
- von Gewalt, die sie in den Familien und/oder am eigenen Leib erfahren
- von Alkohol und Drogenkonsum im näheren Umfeld
- von Verwahrlosung und Asozialität
- von absenten Vätern
- von Klinik- und Heimaufenthalten
- von prägenden Zuschreibungen in Kindergarten oder Schule
- von demokratiefernen und extremistischen Einstellungen im familiären Umfeld
Wichtige Bedürfnisse wie Gesehen-Werden, Gewertschätzt-Werden, Geliebt-Werden, Selbstwirksamkeit u. v. a. m. bekommen sie nicht bzw. nur sehr eingeschränkt erfüllt.
Eine – wenn auch sehr destruktive – Lösung für den Umgang mit diesen Erfahrungen ist die Entwicklung von großer Wut bis hin zum Hass.
Daraus ergibt sich die nächste These.
These 5: Hass stabilisiert
Ich erinnere einen Klienten in Haft, Anfang 20, mit dem ich in einem Einzeltraining arbeitete, der am Anfang jeder Stunde erstmal seinen Hass auf alle möglichen Menschen und auf die Welt förmlich rausschreien musste. Ich kam kaum dagegen an.
Dann fragte ich ihn einmal: Was würden Sie machen, wenn Sie den Hass nicht hätten? – Seine Antwort kam so prompt wie überraschend: „Dann würde ich zusammenbrechen.“
Und wir verstanden nach und nach gemeinsam, dass ihn der Hass schützte – zum einen vor der Trauer über all das, was ihm als Kind versagt geblieben war, vor allem aber schützte es ihn vor der Angst, überhaupt keinen Plan zu haben, was er mit seinem Leben anfangen sollte. Er hatte keine Ausbildung, musste noch einige Jahre in Haft verbringen und er hatte „draußen“ keinen Menschen, auf den er zählen konnte.
Hass und Angst gehören oft zusammen. Hass ist besser auszuhalten als Angst, die aber nicht weg ist und weiter unbewusst gärt.
Je größer die Angst ist, umso größer muss der Hass werden, denn wenn man die Angst (und die Trauer) zulässt, muss man befürchten, das nicht auszuhalten und zusammenzubrechen.
Weiter gefasst kann man sagen: Hass schützt einen vor dem kritischen und klaren Blick auf sich selbst und vor der Verantwortung für sich selbst.
Schließlich richtet man sich darin ein. Man erfährt, dass Hass auch etwas Lustvolles haben kann und er sich mit der Lust an der Gewalt verbindet.
„Hate keeps me warm“ ist ein beliebtes Tattoo bei rechtsextremistischen Gewalttätern. Der innere Hass wird dominant und auf destruktive Weise „wärmend“.
Je später man diese Menschen erreicht, umso schwieriger wird es, diesen Prozess wieder umzukehren.
„Wer mit Ungeheuern kämpft, mag zuseh‘n, dass er nicht dabei zum Ungeheuer wird. Und wenn du lange in einen Abgrund blickst, blickt der Abgrund auch in dich hinein.“
(Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, 1886)
These 6: Hass macht dumm
Diese These ergibt sich aus dem bisher Gesagten.
Wenn ich hasse, kann ich nur kleine Ausschnitte von mir, den Anderen und der Welt sehen.
Das bedeutet: Je mehr ich hasse, umso kleiner wird meine Welt, umso dümmer werde ich.
Es gibt dann keine Differenzierungen mehr – nicht im Blick auf mich, den Anderen und die Welt. Alles wird kleiner und eingeschränkter.
These 7: Hass ist politisch
„Die meisten Menschen leben im Treibsand zwischen Erfolg und Überflüssigkeit. Sie kämpfen darum, nützlich zu bleiben, wesentlich zu werden – nicht abzustürzen in die spätkapitalistischen Müllhalden, aus denen es keine Rettung gibt.“
(Ilja Trojanow, Der überflüssige Mensch, 2013)
Ich erinnere mich an ein Gespräch im Rahmen der Telefonseelsorge in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Ein mittelalter, arbeitsloser Mann rief mich an; er war sehr aufgebracht und voller Wut, weil er sich beim Arbeitsamt recht würdelos behandelt fühlte. Daneben ließ er immer wieder einfließen, dass er es in der DDR besser gefunden habe, erwähnte aber auch, dass er als politischer Häftling in Haft gesessen hatte.
Ich stutzte und fragte ihn, wie er da die DDR verteidigen kann, er antwortete: „Wenn ich da was angestellt habe, dann habe ich ein paar auf die Schnauze bekommen und wusste, woran ich bin. Heute interessiert es keinen, wer ich bin und was mit mir los ist.“
In der DDR gab es ein zynisches Bonmot: „Jeder ist zu etwas nütze, er kann immer noch als schlechtes Vorbild dienen.“ Der Anrufer schien so ein Mensch gewesen zu sein. Jemand, der ausgestoßen war, aber der sich – auf sehr destruktive Weise – immer noch gesehen gefühlt hat. Jetzt hatte er selbst dieses Gefühl nicht mehr; er war „nur noch eine Nummer“.
—
Es gibt also das Gefühl und auch die Erfahrung, überflüssig zu sein oder zumindest die Angst davor – und das macht rasend wütend. Und wenn das so ist, stellt sich die Frage, was macht es mit uns als Gesellschaft, wenn wir in den aktuellen Diskussionen seit Jahren über die „vermeintlich“ überflüssigen Menschen debattieren, die wir wieder loswerden wollen? Was für eine Angst entsteht dahinter, vielleicht auch irgendwann zu den Überflüssigen zu gehören?
Gegen das Gefühl und/oder die Erfahrung, überflüssig zu sein, „hilft“ Radikalisierung: Dann bin ich ein weißer, deutscher Mann mit der Aufgabe, das eigene Volk reinzuhalten, spiele eine Rolle, habe eine Aufgabe und eine Gemeinschaft – und Platz und Begründung für meinen Hass, gegen alle, die meine Wahrheit nicht anerkennen.
These 8: Hass lässt sich instrumentalisieren und ist infektiös
Dresden, Juni 2018, auf einer Montagsdemo von Pegida. Auf der Bühne spricht Siegfried Däbritz, Pegida-Gründungsmitglied, abfällig über die Dresdner Hilfsorganisation „Mission Lifeline“. Deren Schiff liegt zu diesem Zeitpunkt mit 234 Flüchtlingen im Mittelmeer und darf in keinen europäischen Hafen einlaufen. Die Menge skandiert: „Absaufen! Absaufen! Absaufen!“ – ganz normale Menschen wünschen anderen den Tod.
Eine Woche später ist ein Fernsehteam des Polit-Magazins PANORAMA (NDR) wieder da und fragt Teilnehmer*innen der Pegida-Demo nach der letzten Woche. Keine*r will mitgeschrien haben, alle sagen: das geht nicht, alle enden mit einem „aber“.
Man hat Vorurteile, Abneigungen, Ressentiments, die werden geschürt – und dann bricht es heraus, alle Schranken fallen, man wird Teil eines Mobs, der andere zerstören will, eines Mobs, der hasst.
Von daher ist der Begriff „Wutbürger“ für eine nicht geringe Zahl dieser sogenannten zu schwach.
These 9: Hass zersetzt Menschen und Gesellschaften
„Hass ist eine Säure, die die Seele auffrisst, ganz gleich, ob man selbst hasst oder gehasst wird.“ (Erich Maria Remarque, 1898 – 1970)
Hass fängt bei hate speech an, die auch vernichtend sein kann, und endet bei Hassgewalt. Hass frisst die Seele desjenigen auf, der hasst, aber er zerfrisst auch das Opfer und die Gesellschaft.
Eine desolate Kindheit kann man integrieren – das ist unsere Aufgabe. Dauerhaft ungerechte Verhältnisse dagegen viel weniger, d. h. die Abwendung des Hasses ist immer eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
These 10: Jedwede Begründung für Hass kann weder Rechtfertigung noch Entschuldigung für das aus diesem Gefühl erwachsene gewalttätige Handeln sein
Der Mensch steht in der Verantwortung für sein Denken und für sein Tun.
Zentraler Bestandteil unserer Arbeit ist es, einen Raum anzubieten, in dem der Klient seinen Hang zum Hass reflektiert und versteht, Verantwortung dafür übernimmt und mit uns schaut, wie er sich weiter denken und fühlen kann als nur im Hass.
Peter Anhalt ist Dipl.-Theologe und Supervisor (DGSv) und leitet den Fachbereich Rechtsextremismus bei Violence Prevention Network.
[1] Die hier aufgeführten Thesen speisen sich ausschließlich aus der Arbeit mit Männern.