Von Elisabeth Hell (Beratungsstelle CROSSROADS, Violence Prevention Network)
In den vergangenen beiden Jahren sind die Anfragen für Beratungen in der Beratungsstelle CROSSROADS zum Ausstieg aus dem Rechtsextremismus und die daraus resultierenden Beratungsfälle deutlich gestiegen. Die Nachfragen sind mittlerweile so hoch, dass wir weit über den Kapazitäten arbeiten und die Anfragen bzw. deren Bearbeitung priorisieren müssen. Anfragen kommen vor allem von stark herausgeforderten pädagogischen Fachkräften, v. a. Lehrkräften und Sozialarbeitenden, und von verzweifelten Angehörigen, insbesondere Eltern, aber auch Geschwistern, die sich sorgen, dass ein Familienmitglied sich radikalisiert, mit rechtsextremen Gruppen sympathisiert oder bereits dort aktiv ist.
Dabei handelt es sich oft um sehr junge Menschen, teilweise ab einem Alter von 14 Jahren, darunter auch einige Mädchen und junge Frauen, die sich den eher neuen rechtsextremen Gruppierungen wie „Jung & Stark“ oder „Deutsche Jugend Voran“ anschließen. Teile dieser Bewegungen fallen seit 2024 durch ihre erfolgreiche Mobilisierung dazu auf, die „Christopher Street Days“ in ostdeutschen (Klein-)Städten zu stören und zu bedrohen. Nachdem einige Zeitungen darüber berichtet hatten, gingen in der Beratungsstelle zahlreiche Anrufe von sehr besorgten Eltern und Lehrkräften ein, die „ihre Jugendlichen“ auf den Fotos entdeckt hatten.
„Saufen und Rumhitlern“
Die Sicherheitsbehörden bezeichnen diese Gruppierungen als „aktionsorientierte“ Gruppen. Und diese Bezeichnung ist insofern zutreffend, als diese Gruppen durch das Angebot von gemeinschaftlichen „Aktionen“ mit großem „Unterhaltungswert“ auffallen. Darunter fallen besagte Ausflüge in andere ostdeutsche Städte und eine ganze Reihe von Demonstrationen in Berlin. Weiterhin gehören Kampfsporttrainings, Provokationen im öffentlichen Raum, wie Beleidigungen und Bedrohungen, aber auch physische Gewalt in Form von tätlichen Angriffen auf vermeintlich „Andersdenkende“ dazu. Der Innenpolitiker der Partei „Die Linke“, Niklas Schrader, beschreibt diese Aktivitäten als „Saufen und Rumhitlern“. Der Verfassungsschutz Berlin hat „Deutsche Jugend Voran“ inzwischen als rechtsextrem eingestuft. Diese Gruppen und ihre Sympathisant*innen erscheinen eher lose organisiert – koordiniert und rekrutiert wird dabei oftmals, fast schon naiv bis leichtsinnig, vor allem über Social Media-Plattformen und Messengerdienste.
Herausforderungen für die Beratung
Einige der zu Beratenden aus dieser Szene sind noch sehr jung. Anstatt als „jung und stark“ entpuppen sie sich dabei oftmals als „jung und prekär“. Prekär, ganz im Sinne der Definition des Wortes, „[…] dass es schwierig ist, richtige Maßnahmen bzw. Entscheidungen zu treffen, dass man nicht weiß, wie man aus einer schwierigen Lage herauskommen kann“.
All dies trifft auf die Jugendlichen zu: Sie sind oftmals sozio-ökonomisch arm, sehr schuldistanziert, konsumieren bereits früh verschiedene, starke Rauschmittel und erleben schnell eskalierende Konflikte mit ihrem Umfeld abseits der Szene, v. a. mit ihren Eltern und Angehörigen oder den Fachkräften der Jugendhilfe, von denen sie betreut werden. Einige der Jugendlichen sind bereits angebunden an Maßnahmen der Jugendhilfe, die nur teilweise greifen. Wir treffen die Jugendlichen damit in einer Lebenssituation, die es ihnen nachvollziehbarerweise schwer macht, eine positive Zukunftsvision zu entwickeln, weil ihre Lage tatsächlich keine rosigen Aussichten verspricht. Dementsprechend erfüllen die oben beschriebenen rechtsextremen Gruppen klassische (jugendspezifische) Bedürfnisse nach Zugehörigkeit, Beschäftigung/Aktion, Orientierung und Sinn. Eine stark ausgeprägte Ideologie bringen die wenigstens mit in die Beratung, dafür aber viel Frust und Hassgefühle auf Mitglieder marginalisierter Gruppen.
Als Beratungsstelle sind wir auf engagierte Multiplikator*innen angewiesen, denen es gelingt, diese Jugendlichen zunächst überhaupt an uns zu vermitteln. Hier braucht es einen langen Atem und Geduld, weil das selten im ersten Anlauf gelingt. Wichtig ist eine gute Vernetzung mit dem bestehenden Hilfesystem bzw. die Initiierung von professioneller Unterstützung für die verschiedenen Problemstellungen. Hier gibt es in der letzten Zeit viele positive Entwicklungen, weil viele sehr engagierte Fachkräfte das Problem erkennen und Radikalisierungsprävention als Teil ihres beruflichen Auftrags verstehen.
Dann gilt es, unsere eigenen Aufträge in der Beratung gut auszuloten. Ein klassischer „Ausstieg“ aus der Szene ist in diesen Fällen nicht das Ziel. Die ideologische Auseinandersetzung ist hier nicht primär. Es geht vielmehr darum, eine erste Distanzierung von der Gewalt anzuregen und die vorhandenen Widersprüche der eigenen Situation aufzudecken.
Alternative Ansätze und Netzwerke werden dringend gebraucht
Die Beratung dieser Zielgruppe erfordert niedrigschwellige Zugänge und aufsuchende Ansätze, denn wer reist schon gerne durch die halbe Stadt ohne ein erklärtes Ziel und eine bestimmte Motivation? Eigentlich bräuchte es neben Beratungsräumen im Sozialraum der Jugendlichen auch Ressourcen für mobile Beratungsarbeit. Hier geraten wir schnell an unsere personellen und zeitlichen Grenzen. Auch das Beratungssetting könnte im Sinne von Kenntnissen über leichte Sprache sowie Ansätze der Sport-, Gestaltungs- und Kunsttherapie besser zugeschnitten sein. Es braucht mehr lebensweltliche Zugänge sowie Kooperationspartner*innen mit Anbindung an Angebote, die alternative „sinnliche Erfahrungen“ abseits rechtsextremer Aktionen ermöglichen. Notwendig sind außerdem Netzwerke und Angebote, in die wir unsere Beziehungsarbeit nach Ende des Beratungsprozesses „überführen“ können. Hier braucht es die Bereitschaft, mit jungen Menschen mit rechten Einstellungen pädagogisch (weiter) zu arbeiten. Das wird von Teilen der Jugendsozialarbeit nachvollziehbarerweise kritisch gesehen, da hier die Sorge vor einem Revival der akzeptierenden Jugendarbeit groß ist. Angesichts der Entwicklungen einer wachsenden gewaltbereiten rechtsextremen Jugendszene ist eine fachliche Auseinandersetzung über den professionellen Umgang mit dieser Klientel daher dringend notwendig.
Eine der größten Herausforderungen der Distanzierungsarbeit bleibt, dass Jugendliche während und nach der Beratungszeit in sog. rechte „Kulturräume“ (oder wie auch immer man es nennen mag) zurück gehen – also Bezirke, Kieze, Schulen, Familien oder Cliquen sowie digitale Echokammern, in denen es sowohl rechtsextreme Hegemonien als auch gesellschaftliche und politische Diskurse gibt, die von rechten bis rechtsextremen Rhetoriken geprägt sind. Ein in allen Teilen der Gesellschaft sichtbares Problem, das eine nachhaltige Distanzierungsarbeit erschwert.
Erklärungen und Ursachen für diese Entwicklungen
Die Frage nach den Gründen für die beschriebene Entwicklung stellt sich regelmäßig. Der Blick fällt dann zuallererst auf den allgemeinen Zustand der Welt. Das Erleben von Klimakrise, Pandemie und Kriegen geht an jungen Menschen nicht spurlos vorbei. Zugleich ist offensichtlich, dass die Altersgruppe der 14 – 21-jährigen ihr politisches Bewusstsein in einer Zeit entwickelt (hat), in der rechtspopulistische bis hin zu rechtsextremen Narrativen den politischen Diskurs nach rechts gerückt haben und sich dies auch in den digitalen Räumen, in denen junge Menschen ihre Zeit verbringen, widerspiegelt. Somit haben der Einfluss der Sozialen Medien und die gezielte Verbreitung von Desinformation und Propaganda seitens rechtsextremer Akteur*innen das politische Aufwachsen diese Kohorte entscheidend geprägt.
Die Zukunft der Jugend ist also (wie immer) ungewiss und das macht ihr Angst. Rechtsextreme Akteur*innen, so zeigen die oben beschriebenen Entwicklungen, machen sich diese Ausgangslage erfolgreich zu nutze. Es gilt, seitens der demokratisch orientierten Akteur*innen, online wie offline, Angebote zu machen, die hier ein Gegengewicht schaffen. Die Jugend braucht Aufmerksamkeit und sie braucht Angebote, die Hoffnung stiften, Selbstwirksamkeit ermöglichen und dabei noch Spaß machen. Das kann die Distanzierungsarbeit nicht allein leisten, sondern das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Elisabeth Hell ist Politikwissenschaftlerin und leitet den Fachbereich Rechtsextremismus bei Violence Prevention Network sowie die Beratungsstelle CROSSROADS.