Gloriett Kargl | INTERVENTIONEN – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik | Ausgabe 12/2018
Der Fall von Mehmet aus dem Jahr 2013 ist ein positives Beispiel, wie auch für Syrien-Rückkehrer eine „Rückkehr in die Gesellschaft“ gelingen kann. Allerdings steht es seit 2015 unter Strafe, nach Syrien auszureisen, um sich dem IS anzuschließen. Welche Veränderungen ergeben sich dadurch für Syrien-Rückkehrer?
Ja, es gibt Syrien-Rückkehrer, die nach diesem Straftatbestand verurteilt wurden und in Haft gekommen sind. Sie haben in dieser Zeit an einem Deradikalisierungsprogramm teilgenommen und konnten nach ihrer Entlassung wieder ein Teil der Gesellschaft werden. Allerdings ist es als junger Verurteilter ohne eine engmaschige pädagogische Betreuung sehr schwierig einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz zu bekommen. Das heißt nicht, dass aufgrund dieser Gesetzesänderung die Chancen auf eine Integration geringer geworden, sondern, dass andere Anstrengungen dafür notwendig sind.
Die gemeinsame Reflexion über das Geschehene ist wesentlich. Dieser Prozess muss mit pädagogischen Maßnahmen verbunden sein. Hier ist Vorsicht geboten, denn bei jeder Form einer Rückkehr, egal wohin sie führt, muss ein pädagogisches „Auffangbecken“ etabliert sein. Wenn dieses Angebot nicht da ist, wird jeder Ort, egal ob in Freiheit oder in Haft, ein problematischer Ort sein.
Der erste Schritt beginnt in Haft
Im Fall Mehmet war der Wiedereinstieg in die alte Lebenswelt leichter. Die Beraterinnen und Berater waren nah an seinem sozialen Umfeld und vermittelten zwischen Familie und Behörden. So war es für Mehmet relativ schnell möglich, neue soziale Kontakte aufzubauen und sich seinen Berufswunsch zu erfüllen. Solche Lernprozesse werden durch eine Haftstrafe verzögert, denn Maßnahmen im Vollzug können nie mehr als eine „Trockenübung“ für das echte Leben sein. Haft alleine ermöglicht keine soziale Integration. Manchmal kann sie diese auch behindern.
Die Herausforderungen für einen Wiedereinstieg sind vielfältig und berühren alle Lebensbereiche eines Haftentlassenen. Fragen, die sich viele stellen, sind: „Wie bekomme ich einen Arbeitsplatz mit dem Etikett ‚Syrienrückkehrer‘?“; „Werde ich eine Wohnung bekommen?“; „Schaffe ich die Behördengänge?“ und vor allem: „Wie kann ich neue Menschen kennenlernen?“.
Die Kontakte aus dem Knast nehmen die Entlassenen nicht mit. Wenn sie endlich „draußen“ sind, rufen sie auch nicht gleich die Beraterinnen und Berater an. Die salafistische Zugehörigkeit umgab die jungen Männer wie ein Kokon, der dafür sorgte, dass alle Kontakte außerhalb der Szene abgebrochen wurden und Freundschaften ausschließlich in der Gruppe möglich waren. In diesem Netzwerk fühlten sich die jungen Männer verstanden und aufgehoben. Soziale Kontakte ergaben sich aufgrund der selben Zugehörigkeit, ohne Anstrengung – ganz von allein.
Dieser doppelte Verlust von sozialen Netzwerken führt dazu, dass die Betroffenen zunächst völlig kontaktlos in der Welt stehen. Deshalb muss eine pädagogische Begleitung bereits in Haft beginnen, um die Rückkehr in die Normalität und in den Alltag sinnvoll zu planen. Die jungen Menschen wollen im Hier und Jetzt ankommen. Deshalb schaffen die Beraterinnen und Berater Raum für Gespräche und Fragen, die für die Betroffenen wesentlich sind. Was sind meine nächsten Ziele? Wie kann ich es schaffen, nicht mehr in einer ständigen Konfliktsituation mit dieser Gesellschaft zu sein? Wie kann ich Teil dieser Gesellschaft werden? Wie kann ich meine eigene Zukunft gestalten? Diese Entscheidungen muss die Person selbst treffen und dabei lernen, dass es nicht um die Erwartungen der Eltern geht. Ein erster Schritt kann darin bestehen, dass diese jungen Menschen sich als selbstwirksam und handlungsfähig mit Blick auf ihr eigenes Leben erfahren.
Dabei ist eine ideologische Auseinandersetzung wichtig, diese findet aber nicht sofort statt. Weit wichtiger ist die Bearbeitung der Konflikte, die vor der Zeit des IS im sozialen Umfeld des Rückkehrers eine Rolle gespielt haben. Unbearbeitete Konflikte in der Familie, im Freundeskreis oder in der Schule dürfen nicht ignoriert werden und müssen im Kontext möglicher Ursachen für eine Radikalisierung gesehen werden. Konkret kann das bedeuten, dass es vielleicht Konflikte mit dem Vater gab, oder Konflikte zwischen Vater und Mutter, die mit dem Sohn thematisiert und bearbeitet werden müssen. So kann der junge Mensch nicht nur in diesem sozialen Umfeld bleiben, sondern sich auch als Teil dieses Umfelds begreifen und lernen auf eigenen Beinen zu stehen.
Lernen, eigene Entscheidungen zu treffen
Im dargestellten Fall entschied sich Mehmet bewusst für einen Ausbildungsplatz, der mobil war. Das heißt, er hat im Rahmen seiner Arbeit die Möglichkeit, nicht nur in einem sozialen Umfeld aktiv zu sein, das er manchmal als kontrollierend erlebte, sondern sich frei an vielen Orten und in unterschiedlichen Kontexten zu bewegen. So sagt er heute: „Ich bin jeden Tag in einer anderen Stadt. Ich komme herum. Ich erweitere meinen Horizont. Ich kann meinen Tagesablauf selbst gestalten und komme in Situationen, in denen ich ganz alleine Entscheidungen treffen muss.“ Das sind wichtige Lernprozesse, die nur gelingen können, wenn die Betroffenen ihre Systeme nicht als kontrollierend wahrnehmen. Es ist wichtig, dass die betroffenen Personen lernen ihre eigenen Entscheidungen zu treffen und diese auch umzusetzen.
Wenn es dabei Widerstände von außen gibt, wie zum Beispiel im Fall von Mehmet die Schule, dann brauchen Menschen mit der Stigmatisierung „Syrien-Rückkehrer“ Hilfe und Unterstützung, um eine Integration in die Gesellschaft zu meistern. Wären diese jungen Menschen mit dem „Rückkehrer-Etikett“ alleine, würden sie diese Konfliktdynamik gar nicht durchstehen. Für die Beraterinnen und Berater ist es in diesen Fällen auch eine Herausforderung, die Basis für eine Beschulung, eine Ausbildung oder einen Arbeitsplatz zu schaffen. Die Frage, ob man das Etikett „Syrien-Rückkehrer“ bei einer Bewerbung preisgibt, stellte sich bei Mehmet nicht, da es kein Ermittlungsverfahren gegen ihn gab und sich daraus keine Verpflichtung zur Angabe dieser Information begründete. Die Vorgehensweise für Haftentlassene hingegen ist eindeutig und zugleich schwieriger, wenn sie, wie in einem anderen Fall geschehen, noch am Tag der Haftentlassung im Fernsehen zu sehen sind. Durch die öffentliche Bekanntmachung der Identität des Rückkehrers war der hart erkämpfte Ausbildungsplatz wieder verloren. Der Arbeitgeber hatte den jungen Mann schlicht wiedererkannt. Diese Situation ist für einen jungen Menschen eine Überforderung. Hier fangen die Beraterinnen und Berater die jungen Menschen vor allem emotional auf und versuchen, gemeinsam einen neuen Ausbildungsplatz zu finden.
Zudem gibt externe Umstände, die eine Rückkehr erschweren können. Beraterinnen und Berater unterstützen und begleiten diese Prozesse, um die Haftentlassenen einerseits aufzufangen und andererseits zu stärken. Sie fragen dann immer wieder: „Was möchtest du? Wie möchtest du dein Leben gestalten?“. Die Beraterinnen und Berater geben dem Jugendlichen Raum zu lernen, sich diese Fragen zu stellen. Es bedarf vieler kleiner Schritte bis er merkt, dass sich der Erfolg einstellt. Das könnte im Fall von Mehmet z.B. bedeuten, dass er sich selbst einen Ausbildungsplatz ausgesucht und sich gegen den Willen seiner Eltern durchgesetzt hat.
Das sind ganz wichtige Erfahrungen für einen jungen Menschen, um einen selbstbestimmten Weg zu gehen. Damit verbinden sich ein positives Selbstwertgefühl und ein neues Selbstbewusstsein. Der Fokus kann so auf die persönlichen Ressourcen und Stärken gelegt werden. Integration in den Alltag bedeutet nicht irgendeinen Alltag, sondern genau den Alltag, den der Betroffene auch möchte. Es handelt sich um eine selbstbestimmte Integration. Erst dann kann eine Auseinandersetzung mit dem geschlossenen Weltbild, der Ideologie des IS beginnen. Die Distanzierung von alten Gedankengebäuden, die noch im jungen Menschen verhaftet sind und sein Denken prägen gelingt, wenn eine Vertrauensbasis zu den Beraterinnen und Beratern aufgebaut ist. Bestehende Zweifel können besprochen werden, im Kontrast dazu durften früher im Ausbildungslager des IS keine Fragen gestellt werden. Hinzu kommt, dass seit der Rückkehr die Fragen der Familie kommen: „Wieso hast du das gemacht? Warum bist du ausgereist?“. Doch auf diese Fragen hat der Rückkehrer meist noch gar keine Antworten. Sie überfordern ihn. Die Beraterinnen und Berater können in diesem Fall neutrale Gesprächspartner sein und so die brennenden Fragen mit dem Jugendlichen diskutieren.
Die Aufarbeitung der Ideologie, d.h. wie die Betroffenen gedacht, erlebt und die Welt gesehen haben, führt dazu Mut zu entwickeln und Fragen zu stellen. Diese Fragen und Zweifel kann ein Mensch nur zulassen, wenn er sich angenommen und anerkannt fühlt. Das ist die pädagogische Leistung, die in Deutschland Beraterinnen und Berater von Nichtregierungsorganisationen (NGOs) leisten. Die NGOs sind Träger der Kinder- und Jugendhilfe und sie setzen sich zum Ziel, Menschen zu einem selbstbestimmten, zufriedenen und gewaltfreien Leben zu verhelfen. Extremismus kann unter diesem Gesichtspunkt als Flucht vor einem eigenständigen, eigenverantwortlichen und straffreien Leben gesehen werden. Beraterinnen und Berater versuchen den ursächlichen Schmerz zu finden, der zu dieser Flucht geführt hat. Wenn diese Ebenen nicht bearbeitet und verstanden werden, kann weder eine Distanzierung von der Ideologie erreicht, noch eine Fluchttendenz abgewendet werden. Selbst wenn die Deradikalisierung als Ergebnis ein Erfolg für die Sicherheitsbehörden ist, bedeutet dies für die Beraterinnen und Berater einer NGO nur die Erreichung eines Teilziels. Denn unbearbeitete Konflikte und Ideologien können für den jungen Haftentlassenen das Abrutschen in die Kleinkriminalität, in Suchtkreisläufe oder in obskure Organisationen begünstigen. Pädagogische Konzepte setzen sich zum Ziel, an den individuellen Ursachen und Gründen einer extremistischen Lebensweise zu arbeiten, der bloße Ausstieg aus dem Extremismus greift demnach zu kurz. Es wäre reine Symptombekämpfung.
Die Bedürfnisse dagegen gehen weit tiefer. Die jungen Menschen haben sich mit der extremistischen Szene hochgradig identifiziert. Eine Distanzierung kann ohne integratives Konzept und Alternativangebote nur oberflächlich greifen. Wird die Distanzierungsarbeit ohne Integrationsgedanken verfolgt, ist es nur eine Frage der Zeit bis eine Re-Radikalisierung einsetzt oder eine Flucht in andere problematische Verhaltensmuster erfolgt.
Unterschiedliche Erwartungen an Distanzierung und Deradikalisierung
Es gibt Risiken, die einen pädagogisch begleiteten Distanzierungs- und Deradikalisierungsprozess gefährden können. Das Vertrauensverhältnis zu den Betroffenen kann durch eine enge Zusammenarbeit zwischen Beraterinnen und Berater und den Sicherheitsbehörden belastet werden, wenn diese zu stark in Prozesse eingreifen und vordefinierte Rollen und Kompetenzbereiche nicht berücksichtigt werden. Die Jugendlichen haben dann den Eindruck, dass ihre Berater in Wirklichkeit nur als verlängerter Arm der Sicherheitsbehörden dienen, da sie alle Informationen an die Behörden weitergeben. Ein weiterer problematischer Punkt betrifft die plötzliche Abschiebung während des Betreuungsprozesses. Denn eine positive Entwicklung des Betroffenen im Distanzierungs- und Deradikalisierungsprozess ist für eine Abschiebung nicht relevant. Des Weiteren stellt der Abbruch der Betreuung ein Risiko dar, dieser Fall zeigt sich in der Praxis allerdings sehr selten. Aus Sicht der Beraterinnen und Berater gibt es in jedem Betreuungsfall Phasen, in denen befürchtet wird, dass die betroffene Person wieder abrutschen könnte, auch Konflikte gehören zu jedem Betreuungsverlauf. Geht der Betroffene wieder einen Schritt zurück, muss die Beraterin oder der Berater sehen, wo der junge Mensch wieder aufgefangen werden kann.
Ein Beispiel: Ein betreuter junger Mann ist wieder straffällig geworden oder obdachlos, weil er zu lange und vor allem zu laut gefeiert hat. Nun erwartet er von seinem Berater, dass dieser ihm eine neue Wohnung organisiert. Das geht natürlich nicht. Aber es zeigt, dass oft übermäßige Erwartungen an die Beraterinnen und Berater gestellt werden. Diese Konflikt- und Krisensituationen sind Ausgangspunkte für weitere Lernprozesse, in denen die Beraterinnen und Berater verstehen, wie die Betroffenen und ihre sozialen Umfelder „ticken“. Die Beraterinnen und Berater reflektieren jeden Schritt der Betreuung und berücksichtigen die individuellen Stärken und Schwächen der betroffenen Personen. Diese komplexen Auseinandersetzungen folgen nie einer eindeutigen Entwicklung von Distanzierungs- oder Deradikalisierungsprozessen.
Die Rückkehrerinnen und ihre Kinder
Es gibt unterschiedliche Generationen von Syrien-Rückkehrern. Die erste Generation ist mit einem sehr hohen moralischen Impetus nach Syrien ausgereist. Dort haben sie einen Realitätsschock erlitten und sehr schnell versucht, irgendwie nach Deutschland zurückzukehren. Die nächste Generation hat sich auch noch stark mit der Szene identifiziert und hegte kaum Selbstzweifel. Diese jungen Menschen sind meist aus anderen Gründen zurückgekehrt. Die letzte Generation kehrt jetzt zurück. Diese jungen Menschen sind nicht nur von der Ideologie, der Struktur und des Alltags des IS geflohen, sondern im Wesentlichen vor den letzten Wirren der kriegerischen Auseinandersetzungen in Syrien. Sie waren mitten im Krieg und haben dabei traumatische Erfahrungen gemacht. Wie die Arbeit mit der letzten Generation verlaufen wird, ist noch unklar. Bereits jetzt ist aber abzusehen, dass sich die Betreuung vor allem jungen Mädchen zuwenden muss, die mit 14 oder 15 Jahren nach Syrien ausgereist sind. Sie waren mit ein, zwei oder drei Männern verheiratet, die dann in den Kämpfen gestorben sind. Diese jungen Frauen sind mittlerweile zwischen 18 und 21 Jahren alt. Sie kehren mit ihren kleinen Kindern nach Deutschland zurück. Diese Rückkehrerinnen stellen die pädagogische Arbeit vor ganz besondere Herausforderungen. An der Fallarbeit sind unterschiedliche Akteure beteiligt: Das Jugendamt, die Familienhelfer, der zentrale Staatsschutz, die Beraterinnen und Berater für die Rückkehrerinnen sowie die Beraterinnen und Berater für die Familien der Rückkehrerinnen. Es gibt plötzlich fünf bis sechs verschiedene Akteure. An diesem Punkt ist es notwendig, eine klare Rollen- und Aufgabenverteilung der beteiligten Akteure zu gewährleisten. Wer übernimmt das Fall-Monitoring, damit die Interessen aller Beteiligten transparent und ausgewogen bleiben? Das Hauptinteresse gilt natürlich der jungen Rückkehrerin. Wichtig ist, dass dabei das Wohl der Kinder berücksichtigt wird. Die Rolle und die Aufgaben des Jugendamtes müssen in den Vordergrund treten, denn das Jugendamt ist neu im Feld der Distanzierung und Deradikalisierung, seine schwache Position muss gestärkt werden. Früher waren in diesem Arbeitsbereich nur die NGOs und die Sicheheitsbehörden aktiv. Es geht um die gegenseitige Akzeptanz der Akteure untereinander und um den Ausgleich der einzelnen Ziele und Interessen.
Bei Rückkehrerinnen geht es nicht nur um die Distanzierung von bestimmten Weltanschauungen, sondern auch darum, ob sie ihrer Mutterrolle gerecht werden (können). Die Mütter sind sehr jung und befinden sich in einer schwierigen Situation. Es stellt sich also nicht nur die Frage nach den eigenen Wünschen der Lebensführung, sondern auch die Frage nach den Bedingungen des Aufwachsens der Kinder und einer verantwortungsvollen Rollenübernahme durch die Mutter. Bis jetzt erleben die Beraterinnen und Berater die Rückkehrerinnen und jungen Mütter vor allem als überfordert. Sie scheinen sich ihrer Mutterrolle noch nicht bewusst zu sein. Die pädagogische Herausforderung besteht darin, den richtigen Ansatzpunkt zu finden. Dies ist immer vom Einzelfall abhängig. Aber die Aufgaben sind deutlich umfangreicher geworden. Die Akteure dürfen nicht nur die Rückkehrerin im Blick haben, sondern auch die betroffenen Kinder. Sollte ihr Wohl gefährdet sein, muss im schlimmsten Fall auch über eine Fremdunterbringung entschieden werden, auch dann, wenn sich diese Maßnahme nachteilig auf die Mutter auswirken könnte.
In jedem anderen Fall entscheidet das Jugendamt ganz klar im Sinne des Kindeswohls. Dies bezieht seit neuestem auch Fälle ein, wo es um Krieg und Terrorismus geht. Diese Fallkonstellationen sind neu für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Jugendämtern, dennoch ist es wichtiger denn je, sich aktiv in die Fallarbeit einzubringen und aufgrund unserer gesetzlichen Grundlage die Interessen der Kinder zu vertreten. Die NGO hat hier nicht den Auftrag, für das Kindeswohl zu sorgen, sondern bemüht sich ausschließlich um Distanzierung, Deradikalisierung und Integration der jungen Mutter in die Gesellschaft. Aber auch die NGO muss dafür Sorge tragen, dass das Anliegen des Jugendamtes im Kreis der Akteure Berücksichtigung findet.
Das Monitoring über den Fall kann weder eine NGO noch eine Sicherheitsbehörde übernehmen, da sie damit eine gefährliche Doppelrolle einnehmen würden. Es ist daher vorstellbar, eine externe Institution z.B. eine Fachkoordinierungsstelle damit zu beauftragen. Im Konfliktfall kann es zu Problemen mit der Vertretung und Durchsetzung einzelner Interessen führen. Die Kinder der Rückkehrerinnen brauchen zudem ganz klar eine parteinehmende Vertretung, diesem Anspruch kann nur das Jugendamt gerecht werden. Die betroffene Mutter benötigt ebenfalls einen eindeutigen Ansprechpartner, um ihren Weg in die Gesellschaft zu finden – das ist die Aufgabe der NGO. Die Beraterinnen und Berater der NGO begleiten aber auch das soziale Umfeld der jungen Frau, welches ebenfalls Beratung benötigt. Hier stellen sich Fragen wie: „Was kann ich als Elternteil, als Großmutter, als Großvater, als Onkel tun, um unterstützend wirken zu können?“ oder: „Wie können nicht bearbeitete Konflikte von früher definiert und angesprochen werden?“.
Für diese Fragestellungen bedarf es eines Teams an Beraterinnen und Beratern, da auch hier unterschiedliche Interessen und Anforderungen zur Problemlösung vertreten werden. Denn wenn nur eine Beraterin oder ein Berater als Ansprechperson für alle fungiert, kommt es zu Interessenskollisionen und Zielkonflikten. Schlussendlich nimmt dann niemand mehr die Beraterin oder den Berater als Vertreter ihrer oder seiner Anliegen ernst.
Der spezielle Fall der Kinder von Rückkehrerinnen
Die Kinder sind völlig unverschuldet Opfer dieser Situation geworden. Es ist klar, dass sie kein Deradikalisierungsprogramm brauchen, weil Ideologien sich in diesem Alter noch gar nicht verhaften können. Viel wichtiger ist, dass das Jugendamt stark genug ist, um diesen Kindern Entwicklungsmöglichkeiten zu gewährleisten, wie sie es auch den anderen Kindern in unserer Gesellschaft möglich sind. Mit einem pädagogischen Konzept, das klar zwischen Kindeswohl und Radikalisierung trennt, soll auch deutlich gegen den aktuell vorherrschenden Alarmismus vorgegangen werden. Es ist falsch, die Kinder zu stigmatisieren oder zu etikettieren und sie damit als potentielle Gefahr für die Gesellschaft zu sehen. Es muss klar gesagt werden, dass Kinder aus extremistischen Milieus nicht automatisch diese Ideologien übernehmen. Dies wird zum Beispiel in Bezug auf die Arbeit mit rechtsextremen Eltern deutlich, auch hier greift dieser Automatismus nicht. Wichtig ist aber, dass es in diesen Fällen sehr häufig zu Beeinträchtigungen des Kindeswohls kommt. Ein pädagogisches Konzept für Rückkehrerinnen muss also auch diesen Punkt berücksichtigen und Ansätze finden, wie die Kinder gestärkt werden können. Das Konzept kann funktionieren, wenn das Monitoring in unabhängigen Händen ist, die unterschiedlichen Interessensberechtigungen Akzeptanz finden, alle Akteure gut vorbereitet sind, systemisch arbeiten und die Rückkehrerin eine intensive Betreuung erhält.
Es gibt in unserer Betreuung keinen einzigen Syrienrückkehrer, der rückfällig geworden ist. Die jungen Männer, die völlig von den Prinzipien der IS-Ideologie überzeugt waren, leben nicht mehr. Die, die zurückgekommen sind, wollen leben. Und „ich will leben!“ ist eine wichtige Voraussetzung, um einen anderen Weg einzuschlagen. Früher sind junge Menschen ausgereist, um für ihre Sache zu sterben. Diejenigen, die zurückgekommen sind, wollen leben.
Was kann die Gesellschaft lernen?
Wir müssen uns fragen, welche Fehler wir gemacht haben. Wenn wir genauer zurückblicken, dann sehen wir, dass wir die Ausreisewellen selbst zugelassen und zu spät reagiert haben. Strukturen, welche diese Entwicklung rechtzeitig hätten stoppen können, wurden viel zu spät aufgebaut. Wir haben zugelassen, dass der Terrorismus exportiert wurde. Wir können vermuten, dass ca. 1000 Menschen ausgereist sind und anhand dieser Zahl kann man ungefähr sagen, wie viele Menschen dort ihr Leben oder ihre Freiheit in irgendeiner Art und Weise verloren haben. Das ist in dieser Form einmalig. Und es darf sich auf keinen Fall wiederholen.
NGOs haben in der Zeit der Ausreisewellen Unglaubliches geleistet. An ihrer Arbeit wird deutlich, wie man Ausreisen verhindern kann. Auch dies ist historisch in der Präventionsarbeit. Hier wurde in der Anfangszeit mit wenig Personal und einem hohen persönlichen Einsatz Vieles verhindert. Wäre das nicht passiert, dann wäre die Zahl der Ausreisenden vermutlich viel höher gewesen. Einzelne Beraterinnen und Berater waren Tag und Nacht unterwegs und haben Ausreisen verhindert, Entscheidungen zwischen Leben und Tod getroffen. Es war für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter eine enorme emotionale Belastung, aber sie haben auf diese Weise auch sehr viel erreicht. Später wurden die Strukturen verbessert, das Personal verstärkt und Beratungsstellen geschaffen, um früher und professioneller reagieren zu können. Es wäre ein grundsätzlicher Fehler an diesem Punkt zu sagen, dass die Ausreisewellen vorbei oder die Extremismusproblematik behoben wäre. Angebote und Strukturen der Beratungsstellen jetzt wieder zurückzubauen, wäre fatal. Denn sobald der Extremismus wieder eine neue Ausdrucksmöglichkeit findet, müssen Strukturen präsent sein. Sie können nicht auf Knopfdruck entstehen. Die Gesellschaft muss lernen, dass Extremismusprävention eine dauerhafte, langfristige Aufgabe ist.
Zur Autorin:
Gloriett Kargl studierte Erziehungswissenschaften an der Hauptuniversität Wien und forschte zu kritischer Bildungstheorie und Demokratiepädagogik. Von 2000 bis 2003 war sie in der Sektenaufklärung Österreich und in der Offenen Jugendarbeit aktiv. Gloriett Kargl leitete von 2003 bis 2012 eine Jugendeinrichtung, koordinierte zahlreiche Jugendprojekte und war als Trainerin im Bildungsbereich tätig. 2012 zog sie mit ihrer Familie nach Berlin und ist seit 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Violence Prevention Network.