„War doch nicht alles schlecht damals…“

Wenn Menschen, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs geboren wurden, sich positiv auf den historischen Nationalsozialismus beziehen – seine ideologischen Glaubenssätze, seine Parteiorganisation (NSDAP, SA, SS), bestimmte Personen oder die staatlichen Organisationsformen des Dritten Reichs -, dann sprechen wir von Neonazismus. Oft wird der Begriff „Neonazismus“ auch in Abgrenzung zu anderen rechtsextremen Weltbildern – Faschismus, Nationalismus oder Neue Rechte – verwendet oder um ein bestimmtes Milieu zu beschreiben, das als besonders fanatisch, militant und gewaltbereit gilt.

Nach dem Krieg organisierten sich überzeugte Nationalsozialisten in der Bundesrepublik u. a. in der Sozialistischen Reichspartei (SRP), die als Nachfolgeorganisation der NSDAP 1952 verboten wurde. Anderen Organisationen, z. B. der 1950 gegründeten Wiking Jugend (Verbot 1994), hingegen gelang es, ihr nationalsozialistisches Weltbild bis weit in die 1990er Jahre hinein unter die Jugend zu bringen. 1964 wurde die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD) gegründet, in ihren Anfängen geprägt und dominiert von alten NSDAP-Kadern. Nach ersten Erfolgen in den Länderparlamenten scheiterte die NPD 1969 mit 4,3 Prozent knapp an der Fünf-Prozent-Hürde. Viele Alt- und Jungnazis betrachteten den Weg der NPD über demokratischen Institutionen damit als gescheitert und wandten sich von der Partei ab. Bis heute hält sich in neonazistischen Kreisen der Standpunkt gegenüber der NPD, eine „Machtübernahme“ könne in der Bundesrepublik nur auf „revolutionärem“ Weg vollzogen werden.

Zur Radikalisierung trug auch die Studentenbewegung der 60er- und 70er-Jahre bei, vielerorts gründeten sich lokal organisierte Neonazigrüppchen. In sogenannten „Wehrsportgruppen“ übten sie häufig militärische Szenarien zur Vorbereitung des revolutionären Umsturzes und zur „Abwehr“ der „kommunistischen Bedrohung“. Ein eigenes Gesicht erhielt der organisierte Neonazismus in der Bundesrepublik 1977 in Gestalt der von Michael Kühnen gegründeten Aktionsfront Nationaler Sozialisten (ANS; später: ANS / NA; Verbot 1983). Die ANS sollte als „legaler Arm“ der 1971 von Gary Lauck gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei / Auslandsorganisation (seit 1977: Aufbauorganisation; NSDAP / AO) fungieren. Mit dem erklärten Ziel, die NSDAP wieder zu erwecken, predigte der Antisemit Kühnen einen „Nationalen Sozialismus“, führte die ANS streng autoritär nach dem Führerprinzip und forderte von seinen „Kameraden“ strikte Disziplin.

Während in anderen Naziorganisationen alte Herren besseren Tagen nachtrauerten, setzte Kühnen zur Durchführung seiner „Zweiten Revolution“ gezielt auf die „deutsche Jugend“. Häufig allerdings scheiterten die Anwerbeversuche der ANS in Szenen, von denen rechtsextreme Neigungen bekannt waren – so z. B. 1983, als die ANS versuchte, Fußball-Hooligans für ihre Vorstellung vom Nationalsozialismus zu begeistern. Zu unvereinbar waren die Ideale von Autorität und Disziplin mit der jugendkulturell geprägten Lebensauffassung rechtsextremer Skinheads und Hooligans, die sich als „echte Kämpfer“ für Volk und Vaterland stilisierten. Die „Scheitelträger“, so der für die organisierten Neonazis gebräuchliche Spitzname, seien verweichlichte Hitler-Nostalgiker, die kneifen würden, wenn es ums Ganze ginge.

Nach dem Mauerfall nutzten Kühnen und sein langjähriger Stellvertreter Christian Worch das Machtvakuum in der untergehenden DDR für den Aufbau neonazistischer Strukturen. Zusätzlich explodierte in den neuen Bundesländern nach der Wende der Markt für rechtsextreme Musik und sorgte dafür, dass sich immer mehr Jugendliche über den Umweg Rechtsrock mit rechtsextremen Inhalten und Weltbildern identifizierten. Insofern ist der Neonazismus keineswegs ein Import westdeutscher Neonazis.

Mitte der 1990er Jahre verschwammen die Grenzen zwischen organisiertem Neonazismus und jugendkulturell geprägtem Rechtsextremismus zusehends. Stattdessen setzte sich das Konzept der „Freien Kameradschaften“ durch, mit dem Neonazis unter maßgeblicher Beteiligung von Christian Worch auf die zahlreichen Vereinigungsverbote der Jahre 1992 – 2000 reagierten. Als informelle Netzwerke regional operierender Klein(st)gruppen stehen die Kameradschaften für den Versuch, das lokale Potential diffus rechtsextremistisch orientierter Jugendlicher zu politisieren und in neonazistische Strukturen einzubinden.

Ende 2017 umfasst das rechtsextremistische Personenpotential in der Bundesrepublik Deutschland laut Bundesamt für Verfassungsschutz 24.000 Personen, davon werden 12.700 als gewaltorientiert eingestuft.

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