Workshop zu aktuellen Trends, Herausforderungen und Kooperationen
Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Violence Prevention Network
Das von Violence Prevention Network gGmbH geleitete RADIS-Cluster „Dialog mit der Fachpraxis“ hat im Dezember 2022 einen Workshop zum Thema Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden veranstaltet. Neben Wissenschaftler*innen aus dem RADIS-Forschungsnetzwerk waren Präventionspraktiker*innen sowie Gäste aus den Bereichen Journalismus, Organisationsoziologie und Verfassungsschutz als Expert*innen für die Sicherheitsbehörden am Workshop beteiligt.
In den zwei Stunden wurden sehr angeregt Strategien und Methoden zur gelingenden Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden im Forschungskontext sowie aktuelle Trends, Sichtweisen und Herausforderungen der Kooperation diskutiert. Insbesondere zum Thema der Zusammenarbeit zwischen Forschung und Sicherheitsbehörden konnten von den Expert*innen hilfreiche Tipps an die Wissenschaftler*innen gegeben werden, die im fünften Beitrag dieser Blogreihe aufbereitet sind. Die Tipps können für Forscher*innen, die Interviewpartner*innen in Sicherheitsbehörden suchen, hilfreich sein.
Die thematischen Interessen und Fragen der Forscher*innen an die Gäste wurden im Vorfeld des Workshops an alle Teilnehmer*innen gesendet, um eine fokussierte Diskussion zu ermöglichen. Das Forschungsprojekt KURI eröffnete den Workshop mit einem kurzen Input zum Stand seiner aktuellen Forschung. Das Projekt untersucht die Problemwahrnehmungen und -definitionen, Lösungskonzepte und -praktiken von Politik, Verwaltung, Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Gruppen der letzten 20 Jahre im Umgang mit religiös begründetem Extremismus.
Empfehlungen für den Austausch mit Sicherheitsbehörden
Zu der für Forscher*innen schwierigen Frage, wie sie Gesprächspartner*innen in den Sicherheitsbehörden für Interviews gewinnen können, um u. a. mehr über aktuelle Trends zu erfahren, äußerte ein Teilnehmer aus einer Verfassungsschutzbehörde: „Sicherheitsbehörden sind keine Austern, die fest verschlossen sind.“ Um diese Aussage zu unterstreichen, nannten die Expert*innen mehrere Behörden, die sich für einen Forschungszugang besonders eignen könnten.
So wird z. B. das infolge der Madrider Zuganschläge im Jahr 2004 gegründete Gemeinsame Terrorismusabwehrzentrum (GTAZ) für die Akquise von Expert*innen empfohlen. Das Zentrum vereint unterschiedliche Behörden und erleichtertet innerhalb dieser den gegenseitigen Informationsaustausch.
Über diese Herangehensweise hinaus gibt es den Expert*innen zufolge in den Landes- und Bundesbehörden immer Personen mit einem spezialisierten Erfahrungsschatz, mit denen über konkrete Forschungsfragen diskutiert werden kann. Herausgehoben wurde die Strategie, über Hintergrundgespräche bspw. beim Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) oder beim Zentrum für Analyse und Forschung (ZAF) an Informationen zu den Forschungsthemen zu gelangen und dabei mehr über die aktuellen Trends in den Sicherheitsbehörden zu erfahren.
Je nach Erkenntnisinteresse wird zudem das im Jahr 2020 eingerichtete Forschungsdatenzentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FDZ) empfohlen, über das Forscher*innen Zugang zu Daten aus Befragungen, zum Ausländerzentralregister sowie zu Kontaktpersonen für den Austausch erhalten.
Präventionsmaßnahmen und Herausforderungen aus Sicht der Sicherheitsbehörden und der Fachpraxis
Aus der Perspektive eines teilnehmenden Experten einer Verfassungsschutzbehörde ist das föderale System in Deutschland für den Präventionsbereich der islamistischen Radikalisierung gut aufgestellt. Vor allem in der Primärprävention gebe es erfolgreich arbeitende nichtstaatliche Träger und regelmäßige Veranstaltungen. Die entstandene Vielfalt in der Präventionslandschaft liefere Antworten auf dringliche Fragen hinsichtlich der Radikalisierungsprozesse. Es seien dadurch u. a. in der Stadtteilarbeit und beim Aufbau vertrauensvoller Netzwerke bedeutende Fortschritte gemacht worden.
In Bezug auf den Tertiärpräventionsbereich, z. B. die Rückkehr von Foreign Terrorist Fighters (FTFs), werden jedoch Reibungsflächen zwischen Sicherheitsbehörden und zivilgesellschaftlichen Trägern erkannt, wie fehlendes Vertrauen in der Kommunikation und somit nur marginal stattfindende Zusammenarbeit. Vor allem der Informationsaustausch bei laufenden Ermittlungen, aber auch datenschutzrechtliche Bedingungen bspw. bei ärztlicher Schweigepflicht sowie der Verschwiegenheitspflicht staatlich anerkannter Sozialarbeiter*innen, seien nach wie vor ein schwieriges Feld, das sowohl die Präventions- als auch die Aufklärungsarbeit erschwere. Das Wissen darüber, dass Tertiärpräventionspraktiker*innen ggf. vor Gericht aussagen müssen, kann das Vertrauensverhältnis zu Klient*innen schädigen, da es für sie schwierig ist, diese von den Sicherheitsbehörden zu unterscheiden. Die Arbeit mit Einzelpersonen unter dem Gesichtspunkt, wer sagt wem was und zu welchem Zeitpunkt, bleibt somit ein schwieriges Feld für die Multi-Agency-Kooperation.
Eine in der Tertiärprävention tätige Praktikerin unterstrich das schwierige Verhältnis zwischen Akteur*innen von zivilgesellschaftlichen Trägern und Sicherheitsbehörden, zweifelte jedoch an der zuvor angedeuteten Perspektive „je vielfältiger und bunter die Präventionslandschaft, desto besser“, unter der die etablierten Angebote oftmals litten. Diese Vielfalt werde von einigen Seiten häufig als Vorwand für eine Weiterführung der aktuellen kurzzeitig befristeten Projektlogik genutzt und stünde somit der strukturellen Verstetigung von bewährten Ansätzen und Trägern mit Expert*innenwissen im Weg. Wenn die diversen und vielzähligen Projekte weder aufeinander abgestimmt noch miteinander vernetzt sind, fehle diesen Projekten die Effizienz.
Im Bereich der Tertiärprävention dauert es aktuell z. T. mehrere Jahre, bis in einzelnen Kontexten ein zufriedenstellender Austausch mit den Sicherheitsbehörden stattfinden kann. Einige Gründe für die Dauer dieses Prozesses sind u. a., dass Zuständigkeiten und personelle Ressourcen sich häufig ändern, das Rollenverständnis immer wieder aufs Neue geklärt werden und somit ein neues Vertrauensverhältnis aufgebaut werden muss. Die Entwicklung einheitlicher Standards oder Lektionen für Kooperationsformate wird durch das föderale System der Bundesrepublik zusätzlich verkompliziert. Jedes Bundesland hat in den letzten Jahren eine eigene Tertiärpräventionsstruktur mit jeweils eigenen Kooperationsansätzen und Aufgabenteilungen zwischen Staat und Zivilgesellschaft entwickelt. Übertragungen sind daher nur begrenzt möglich.
Aktuelle Entwicklungen in den Sicherheitsbehörden
Unzureichende Informationsweitergabe und strukturelle Lücken wurden im Workshop am Beispiel des Falls „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) verdeutlicht. Der Fall sei inzwischen behördlich gut aufgearbeitet und angesichts der ca. 10.000 Seiten Untersuchungsberichte sei es auszuschließen, dass eine übersehene Information zu einer Erkenntnis mit grundsätzlich neuer Perspektive auf den Fall führen würde.
Aus der Ausbildung von Polizist*innen wurde darüber hinaus berichtet, dass der betreffende Experte seit 2018 keine Person in den Behörden mehr kennengelernt habe, die nicht wisse, was in den Ermittlungen zum NSU falsch gelaufen sei. Vor allem in der Lehre herrsche demnach mittlerweile eine starke Sensibilisierung für das Thema Rechtsextremismus. Ein anderer Experte merkte daraufhin an, dass investigativ-journalistische Recherchen zeigten, dass Sicherheitsbehörden von Rechtsextremist*innen durchsetzt seien. Dem wurde von Seiten eines teilnehmenden Organisationssoziologen mit der Erkenntnis widersprochen, dass im Fall NSU viele Wechsel der Zuständigkeiten stattgefunden hätten. Rein strukturell wären Informationen dazu „verdammt“ gewesen, an einer behördlichen Stelle festzuhängen, nicht weitergegeben zu werden und unter den Tisch zu fallen. Hier seien eher „extremes Organisationsversagen, gemischt mit einer Routineblindheit“ die Ursachen gewesen, als verfestigte rechtsextreme Strukturen in den Behörden. Die Problematik der Zuständigkeitswechsel spielt auch bzgl. des Vertrauensaufbaus und Informationsaustauschs zwischen Trägern der Tertiärprävention und Sicherheitsbehörden eine wesentliche Rolle.
Von Seiten des Teilnehmers einer Verfassungsschutzbehörde wurde bemerkt, dass sich die Sicherheitsbehörden phänomenübergreifender ausgerichtet hätten. Die möglicherweise rechtsextreme Gesinnung einer Vielzahl von Beamt*innen sei ein Umstand, der seine Behörde beschäftige. Gerade die COVID-19-Pandemie habe bei Beamt*innen persönliche Krisen hervorgerufen, denen aktiv mit Supervision und psychologischer Beratung begegnet würde. Insgesamt sei der Sicherheitsapparat jedoch in Bezug auf extremistische Gesinnungen in den Behörden widerstandsfähiger geworden, was u. a. an der Einführung kultursensiblerer Angebote liege.
Die anwesende Expertin aus der Präventionspraxis ist ebenfalls bei der Ausbildung von Beamt*innen involviert, bietet Schulungen an und ist eine Verfechterin des Ansatzes, Begegnungen zu schaffen. Bei gut strukturierten Plänen der Ausbildung könne viel erreicht werden. Zudem bräuchten Auszubildende mit internationaler Geschichte Räume, um sich auf Augenhöhe zu begegnen. Divers aufgestellte Teams seien eine Voraussetzung für resiliente Strukturen in den Behörden, um Themen wie u. a. Extremismus entgegenzuwirken.
Fazit
In diesem Workshop konnten durch den Dialog zwischen Wissenschaft, Fachpraxis und Sicherheitsbehörden folgende Erkenntnisse herausgearbeitet werden:
- Die unterschiedlichen Landes- und Bundesbehörden, behördlichen Zusammenschlüsse und Ministerien bieten Forscher*innen die Möglichkeit, Wege der Datenerhebung zu erschließen. Empfohlen wird dabei von Seiten der Expert*innen die Strategie, über Hintergrundgespräche an Informationen zu gelangen.
- Die Weiterentwicklung der universellen Präventionsarbeit der letzten Jahre wird positiv bewertet. Der Informationsaustausch zwischen Sicherheitsbehörden und Tertiärpräventionsbereich wird jedoch durch fehlende personelle Ressourcen und wechselnde Zuständigkeiten erschwert. Das Vertrauen muss oftmals mühsam (wieder-)aufgebaut werden.
- Sicherheitsbehörden sind zunehmend phänomenübergreifend ausgerichtet und sensibilisiert für Rechtsextremismus, u. a. aufgrund der Einführung kultursensibler Angebote. Dennoch ist die Problematik möglicher rechtsextremistischer Einstellungen unter Beamt*innen weiterhin aktuell und bedarf zusätzlicher Gegenmaßnahmen. Begegnungsräume und divers aufgestellte Teams können Extremismen entgegenwirken.
Zum Projekt:
RADIS – Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa
In der BMBF-Förderbekanntmachung „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ forschen zwölf Forschungsprojekte zu den vielen Facetten des Phänomenbereichs radikaler Islam: Welche Gründe lassen sich für das Erstarken islamistischer Tendenzen im deutschsprachigen und europäischen Raum identifizieren? Wie wirken islamistische Strömungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes? Und welche Schlüsse können aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit der Präventionspraxis, Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien gewonnen werden? Diesen und weiteren Fragen gehen Forschende vieler verschiedener Disziplinen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Blickwinkeln im Zeitraum von 2020 bis 2025 nach.