Tore Bjørgo | INTERVENTIONEN – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik | Ausgabe 3/2013
Menschen wenden sich aus den unterschiedlichsten politischen und nicht-politischen Gründen dem Terrorismus oder ähnlichen Formen des gewalttätigen Extremismus zu. Einer der Hauptgründe, sich vom gewalttätigen Extremismus wieder abzuwenden, liegt im wiederholten Scheitern, die erwarteten oder erhofften Ziele zu erreichen und der damit einhergehenden Desillusionierung. Individuen, die sich dem Terrorismus zugewandt haben, haben den unterschiedlichsten sozialen Hintergrund und die unterschiedlichsten Wege der gewalttätigen Radikalisierung beschritten. Täterprofile eignen sich in diesem Falle nicht als Mittel zur Identifikation tatsächlicher oder potentieller Terroristen, da sie weder die Vielfalt noch den individuellen Wandel in der Hinwendung zum militanten Extremismus erfassen. Diese Studie möchte eine dynamischere Typologie der Aktivisten militanter Gruppen vorschlagen, die auf dynamischen Kontinua anstatt statischen Koordinaten basiert. Im Verlauf ihrer extremistischen Entwicklung können sich Personen, die zunächst eher einem Tätertypus entsprechen, hin zu einem anderen Typus mit anderen Eigenschaften entwickeln. Einheitliche Interventions- und Präventionsmaßnahmen kann es dementsprechend nicht geben. Die hier formulierte dynamische Tätertypologie berücksichtigt die Diversität der Hintergründe und Motivationen unterschiedlicher Aktivistentypen und stellt damit ein wichtiges Hilfsmittel zur Entwicklung pass- und zielgenauerer Ausstiegsangebote und Präventionsstrategien gegen gewalttätige Radikalisierung dar.
Im Allgemeinen wenden sich Menschen dem Terrorismus oder vergleichbaren Formen des gewalttätigen Extremismus zu, um einen Traum zu verwirklichen oder aus dem Bedürfnis oder dem Verlangen heraus, etwas zu tun oder zu erreichen. Personen, die den gewalttätigen Jihad oder andere Arten terroristischer Aktivitäten verfolgen, entstammen verschiedensten sozialen Hintergründen und haben unterschiedliche Radikalisierungsprozesse durchlaufen. So wenig Terroristen ein einheitliches Persönlichkeitsprofil aufweisen [1, 3, 8, 10:810, 18], so wenig unterliegt ihr Radikalisierungsweg ein und derselben Ursache oder Motivation. Entsprechend resultieren aus diesem Befund häufig zwei negative Schlussfolgerungen:
- Ein Profiling zur Identifikation möglicher Terroristen funktioniert nicht; und
- der Versuch, Präventionsstrategien gegen die verschiedenen Radikalisierungsprozesse zu entwickeln, ist aussichtslos, da keine umfassenden, allgemeingültigen Maßnahmen formuliert werden können.
Aber selbst wenn es keine universelle Strategie geben mag, so lassen sich doch maßgeschneiderte Interventionsstrategien entwickeln. Auf diese Möglichkeit kommen wir später zurück.
Das Profiling per Ausschlussverfahren, um einzelne Personen aus größeren Bevölkerungsgruppen herauszufiltern, die für eine Gewaltradikalisierung anfällig oder schon im Terrorismus involviert sind, ist nur begrenzt nützlich. Zu häufig liefert es falsch-positive oder falsch-negative Resultate, d. h., einerseits Personen, die dem Stereotyp eines (potentiellen) Terroristen entsprechen, ohne aber ein solcher zu sein, andererseits tatsächliche Terroristen, die nicht als solche identifiziert werden, weil sie nicht dem Stereotyp des Terroristen entsprechen. Einen wesentlich vielversprechenderen Ansatz liefert stattdessen das Profiling nach Entwicklungsbahnen, Prozessen und Bezugsdimensionen [12:60, 13]. Das Verständnis dieser Prozesse und Entwicklungswege eröffnet unter Umständen neue Ansätze zur Identifikation möglicher Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung von gewalttätigen Radikalisierungsprozessen und zur Ausstiegsförderung.
In mehreren Studien, die sich mit verschiedenen gewaltbereiten Gruppen befassen, konnten – zumindest bis zu einem gewissen Grad – eine begrenzte Anzahl von Persönlichkeitstypen der Anhänger solcher Gruppen identifiziert werden. Diese werden durch verschiedene Hintergrundfaktoren und Radikalisierungswege charakterisiert. Eine deutsche Studie von Helmut Willems [22, 23] benennt vier Haupttypen ausländerfeindlicher Gewalttäter: ‚rechtsgerichtete Aktivisten‘, ‚ethnozentrische Jugendliche‘, ‚kriminelle Jugendliche‘ und ‚Mitläufer‘. Dieser Charakterisierung werden verschiedene Persönlichkeitsprofile zu Grunde gelegt, die die politisch/ideologische Motivation, die Gruppenzugehörigkeit, den sozio-ökonomischen Hintergrund, Bildung, Vorstrafen, und die Gewaltbereitschaft berücksichtigen. Eine Studie zu jihadistischen Terrorzellen in Europa von Petter Nesser [15 – 17] benennt vier Hauptkategorien, in die Mitglieder dieser Zellen typischerweise fallen: den Macher, den Schützling, den Außenseiter und den Orientierungslosen. Jeder dieser Typen verfügt über einen unterschiedlichen sozio-ökonomischen Hintergrund und einen unterschiedlichen politischen oder ideologischen Bezug. Bemerkenswert ist dabei die Übereinstimmung beider Typologien, was die Beschreibung dreier der vier Aktivistentypen angeht, gleichwohl sich die politische und ideologische Orientierung beider Tätergruppen stark unterscheidet.
Problematisch an Typenlehren oder Profilen, die auf statischen Idealtypen basieren, ist jedoch, dass viele Aktivisten nicht in die vorgegebene Kategorisierung fallen, oder dazwischen anzusiedeln sind und so ununterscheidbar werden. Klassifikationen, die für eine Gruppe oder Bewegung gut geeignet sind, sind unter Umständen nicht anwendbar auf eine andere. Ein alternativer, dynamischerer Ansatz ist die Beschreibung von Anhängern extremistischer Gruppen entlang mehrerer Dimensionen oder Kontinua. Dimensionen oder Variablen wie Alter, Geschlecht, Altruismus/Egoismus können zwar enthalten sein, für den gegenwärtigen analytischen Ansatz werden aber die folgenden vier Dimensionen angesetzt (unten, Fig. 1).
Diese Dimensionen sollten als dynamische Kontinua anstatt als statische Merkmale oder Positionen betrachtet werden. Jede Person kann sich im Laufe ihrer extremistischen Karriere oder ihres Lebens von einem Pol des Kontinuums zum anderen bewegen. Wer zunächst apolitisch ist, kann hoch politisiert oder ideologisiert werden oder einen Wandel vom bloßen Sympathisanten zur hochrangigen Führungspersönlichkeit durchlaufen. In der Regel schließen sich Menschen extremistischen Gruppen nicht aus extremistischen Überzeugungen an, sondern aus anderen Gründen. Sie übernehmen die extremistische Überzeugung erst im Laufe der Gruppenzugehörigkeit. Genauso kann ein Mensch einen Wandel von einer zunächst sozial relativ marginalisierten Person zu einem gut integrierten und sozial angepassten Mitglied der Gesellschaft durchmachen – oder, bspw. durch Drogenmissbrauch, Kriminalität oder Gewaltextremismus, den umgekehrten Weg von der integrierten zur marginalisierten Person gehen. Darüber hinaus können auch zunächst gewalt- und erlebnisorientierte Extremisten mit zunehmendem Alter ruhiger werden oder sich auf Grund von dauerndem (Verfolgungs-)Druck erschöpfen.
Betrachtet man verschiedene extremistische oder terroristische Gruppen, so ist ihre Zusammensetzung meist sehr heterogen und ihre Mitglieder lassen sich zu jedem Zeitpunkt den unterschiedlichsten Enden des Kontinuums zuordnen. Während einige Gruppen zu einem Großteil aus im jeweiligen Kontinuumsspektrum sozial gut integrierten und ideologisierten Führungspersonen bestehen, gilt für andere Gruppen, dass sich der Großteil der Anhängerschaft aus marginalisierten und apolitischen Personen zusammensetzt, die erst im Laufe der Zeit politisiert werden. Diese verschiedenen Mitgliedertypen übernehmen in der Regel auch unterschiedliche Aufgaben und komplementäre Rollen in der jeweiligen Gruppe [2:48-51]. Folglich gilt, dass die hier beschriebenen Typen, die zum Teil auf den Typologien von Willems [23] (verfeinert in Bjørgo [2]) und Nesser [17] aufbauen, nicht als statische Profile aufgefasst werden sollten, sondern als Positionen, auf die sich Personen während ihres (De-)Radikalisierungsprozesses in unterschiedlichem Ausmaß zubewegen, dabei jedoch durch individuelle Eigenschaften und Qualitäten stärker auf bestimmte Positionen festgelegt sein können als auf andere.
Aus der Erkenntnis, dass Terroristengruppen sich aus verschiedenen Personentypen zusammensetzen, die jeweils unterschiedliche Radikalisierungsprozesse durchlaufen, folgt nicht, dass die Entwicklung verschiedener Präventionsstrategien für die verschiedenen Typen vergeblich wäre. Im Gegenteil, es ist notwendig, jeweils verschiedene Ansätze und Maßnahmen zu entwickeln, die dem spezifischen Typus oder der jeweiligen Dimension angemessen sind. Einige der Typen sind empfänglich für sozio-ökonomische Eingriffe, andere lassen sich durch psychosoziale Faktoren beeinflussen, während wiederum andere empfänglich für ideologische und politische Themen sind. Präventionsstrategien müssen sowohl auf den spezifischen Antrieb des jeweiligen Typus als auch auf die Eigenheiten der jeweiligen Gruppe maßgeschneidert sein. Die unterschiedlichen, oben beschriebenen Dimensionen können uns dabei helfen, eine Anzahl an Interventionsansätzen zu formulieren, die verschiedene Typen (potentieller) Aktivisten veranlassen, ihren Radikalisierungsprozess abzubrechen oder sich aus der militanten Gruppe, der sie angehören, zu lösen. Dabei dürften diese unterschiedlichen Präventions- oder Interventionsstrategien aufgrund jeweils unterschiedlicher Bedürfnisse und Anfälligkeiten unterschiedliche Effekte auf verschiedene Aktivisten haben, weswegen die Typen und Profile, die hier beschreiben werden, nicht als Instrument zur Identifikation potenzieller Terroristen aufgefasst werden dürfen. Vielmehr können sie als Hilfsmittel für die Entwicklung spezifischerer und zielgenauerer Strategien zur Ausstiegsförderung und zur Prävention von Gewaltradikalisierung dienen, die unterschiedliche Typen von gewalttätigen Aktivisten berücksichtigen. Die folgenden Profile sind als Idealtypen anzusehen, nicht als statische Positionen, da die Typologie auf Dimensionen basiert, die dynamische Kontinua repräsentieren. Einzelne Personen können sich im Laufe ihrer extremistischen Karriere von einem Typ zu einem anderen Typus mit anderen Eigenschaften wandeln.
Ideologische Aktivisten
Ein bestimmter Typus von Radikalisierungsprozess charakterisiert ideologische Aktivisten, die führende Rollen in terroristischen Zellen einnehmen. Dabei handelt es sich oft um charismatische Personen mit idealistischen Motiven und einem starken Gerechtigkeitssinn, die auf das Leiden anderer Menschen – Mit-Muslimen oder andere, lokale oder globale, Identifikations- oder Bezugs- gruppen – reagieren. Ein intellektueller Prozess, in dem die Notwendigkeit aktiv zu werden langsam zur politischen oder religiösen Pflicht wird, führt zur Hinkehr zum Jihadismus oder anderen Spielarten politischer Gewalt [17]. Solche altruistischen Personen sind oftmals lebenstüchtig, gebildet, gut integriert und gelten in manchen Fällen sogar als Vorbilder innerhalb ihrer Community [21].
Eine besondere Gruppe innerhalb dieser Kategorie bilden die erfahrenen Veteranen des Jihad, die an bewaffneten Kämpfen innerhalb der jihadistischen Kriegsschauplätze (bspw. Afghanistan, Irak, Tschetschenien, Kashmir und Bosnien) beteiligt waren und die neben einem gewissen Heldenimage auch Kampferfahrung haben. Sie fungieren auch als Verbindungsglieder der weltweiten jihadistischen Bewegung.
Eine weitere, jüngere Untergruppe lässt sich als Schützlinge der Anführer [17] beschreiben. Sie tendieren dazu, den Jihadismus aus einer Kombination aus Loyalität zum jeweiligen Anführer und aus politischem Aktivismus anzunehmen. Obwohl häufig intelligent, begabt und sozial gut angepasst sind sie doch mitunter leicht zu beeinflussen und von den Älteren, zu denen sie aufschauen, manipulierbar. Diejenigen, die besonders politisch und ideologisch motiviert sind, könnten dann desillusioniert werden, wenn sie feststellen, dass die Gruppe oder der Kampf die eigenen Ziele nicht befördert oder die Lage derjenigen, für die sie zu kämpfen meinen, nicht verbessert. So könnte es beispielsweise auch diejenigen, die für die muslimische Sache kämpfen wollten, verunsichern, dass Al-Qaida nach einigen Quellen [11, 14] achtmal mehr Muslime getötet hat als westliche Nicht-Muslime. das Gleiche gilt für Widersprüche zwischen gewaltsamen Mitteln und politischen Zwecken, für Aktivitäten, die den eigenen Überzeugungen zuwiderlaufen oder anderen Formen kognitiver Dissonanzen. Obwohl schwer zu überzeugen, lässt sich diese Gruppe unter solchen Umständen möglicherweise ideologisch herausfordern.
Davon abgesehen sind diejenigen, für die Führungsstatus eine hohe Bedeutung hat, besonders sensibel bezüglich Satus- und Vertrauensverlust innerhalb der Gruppe. In Situationen, die mit Statusverlust verbunden sind, ist die Möglichkeit des Ausstiegs unter Umständen attraktiver als zuvor, als der Status noch intakt war und sie in angesehener Position waren. Manchmal lässt sich dieser Verlust an Status und Vertrauen innerhalb der Gruppe bzw. dem Milieu durch entsprechende Eingriffe auch befördern (bspw. durch die Veröffentlichung diskreditierender Informationen über die betreffende Person). Die Kombination aus politischer Enttäuschung und Status- oder Führungsverlust erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Ausstiegs aus der Gruppe und einer anschließenden Deradikalisierung auf ideologischer Ebene (was häufig ein gradueller Prozess ist). Bei Personen, die über einen langen Zeitraum einen hohen persönlichen Einsatz erbracht haben und eine entsprechende Tendenz zu Erschöpfung und Burn-out aufweisen, kann dies noch stärker zutreffen. Insbesondere, wenn sie unter hohem Druck und in beständiger Gefahr leben.
Der Ausstieg von Führungsfiguren sendet zusätzlich ein starkes Warnsignal an Jüngere, entsprechenden Gruppen beizutreten, und kann für andere Unzufriedene in der Gruppe den Weg ebnen, den Ausstieg ebenso zu wagen. Eine Führungsfigur oder ein Wortführer der Radikalisierung kann aufgrund ihrer besonderen Glaubwürdigkeit und Erfahrung ebenso zum wichtigen Wegbereiter des Ausstiegs oder der Deradikalisierung werden. Einige prominente Beispiele hierfür gibt es für pro-jihadistische Gruppen, für Neonazikreise und andere radikale, gewaltbereite Gruppierungen. So spielen Aussteiger gelegentlich eine wichtige Rolle bei der Gründung, der Führung und in der Außendarstellung entsprechender Ausstiegs- oder Deradikalisierungsprogramme (z. B. das Exit-Programm für Neonazis in Schweden und Deutschland, das Programm zur Wiedereingliederung von ehemaligen Terroristen der Jema‘a Islamiya in Indonesien und die Quilliam Foundation für ehemals militante Islamisten in Großbritannien [7]9.
Orientierungslose und Mitläufer
Für manche Jugendliche ist die Erfahrung der Zugehörigkeit zu einer Gruppe und die Akzeptanz durch Gleichaltrige oder Anführer so bedeutsam, dass bestimmte andere Aspekte unter Umständen vernachlässigt werden. Welcher Gruppe sie sich dabei anschließen und welche Ziele verfolgt werden ist dabei häufig zufällig und situationsabhängig. Teil einer militanten Gruppe zu sein, ist stark identitätsstiftend. Solche Jugendliche sind auf der Suche nach Freunden, Kameradschaft, Schutz und der Erfüllung einer Reihe sozialer Bedürfnisse [21:86-7, 23, 2:201- 7]. Ideologie spielt – zumindest anfangs – keine große Rolle für diese orientierungslosen Jugendlichen. Auch besonders extremistische Auffassungen oder ausgeprägte politische Ansichten sind in dieser Phase eher selten. Typischerweise ist auch ihr Hintergrund nicht durch sozio-ökonomische Probleme, Arbeitslosigkeit oder Schulabbruch geprägt. Nicht ungewöhnlich sind dagegen Erfahrungen wie Einsamkeit oder Mobbingopfer geworden zu sein (2:203-4, 6:107-9, 4:56-57). Was die in Frage stehenden Gruppen so attraktiv für diese Jugendlichen macht, ist vor allem in ihrer Suche nach Gemeinschaft und Gruppensolidarität begründet. Entscheidend für die Gewaltbereitschaft sind gruppendynamische Aspekte (Konformität, Geltungsbedürfnis); Gewaltbereitschaft, Feindbilder und Hass bringen diese Jugendlichen zumeist nicht ursprünglich mit. Ausgeprägt ist hingegen oft die Bereitschaft, Gewaltakte auszuführen, wenn es um Ansehen innerhalb der Gruppe geht oder darum, andere nicht im Stich zu lassen [23:173]. Diese Jugendlichen sind in der Regel nicht Antriebskräfte einer extremistischen oder gewalttätigen Radikalisierung, sondern sie sind per Definition Unterstützer und Anhänger.
Eine besondere (Unter-)Gruppe innerhalb der Orientierungslosen stellen Konvertiten dar. Dies können sowohl Islamkonvertiten sein, die jihadistischen Zellen beitreten, Nicht-Weiße, die sich militanten Neonazi-Guppen anschließen, oder Angehörige einer ethno-nationalen Mehrheit, die sich Gruppen zuwenden, die für die rechte oder die Loslösung einer ethno-nationalen Minderheit kämpfen. Da diese Personen zunächst nicht dazu gehören, haben sie das starke Bedürfnis, sich als vollwertiges und vertrauenswürdiges Gruppenmitglied zu beweisen, beispielsweise durch besonders starke ideologische Ansichten oder Gewaltbereitschaft. Auf diese Weise können sie sich, zumindest auf ostentativer Ebene, als besonders extreme Mitglieder der Gruppe beweisen. Manche dieser Personen entstammen marginalisierten Verhältnissen und engagieren sich um ihrer selbst Willen (siehe unten), andere können lebenstüchtig und altruistisch sein. Personen mit relativ geringer ideologischer und politischer Motivation sind leichter zum Ausstieg zu bewegen, wobei ideologische Debatten dabei nicht notwendigerweise ihrem Hauptaugenmerk entsprechen. Wo Kameradschaft und Gruppenzugehörigkeit besonders wichtig sind, ist die Anfälligkeit für Enttäuschungen besonders hoch, wenn Freunde, Gruppen oder Führungsfiguren den hohen Erwartungen an Freundschaft, Loyalität und Führung nicht gerecht werden. Aussteiger aus militanten Neo-Nazigruppen berichten, wie Führungskader versuchten, sie mit Hilfe von Druck oder der Aussicht auf Belohnung dahingehend manipulierten, Gewalttaten zu begehen, zu denen die Anführer selber nicht bereit waren [2:217-218]. Aktivisten, die freiwillig gegen die amerikanischen Invasionstruppen im Irak und in Afghanistan in den Jihad zogen, erzählten, wie lokale Führungsfiguren versuchten, sie zu Selbstmordattentaten zu überreden – was überhaupt nicht ihrer Motivation entsprach, in den Irak oder nach Afghanistan zu ziehen. Überläufer der kolumbianischen FarC-Guerilla und anderer militanter Organisationen brachen aus Enttäuschung über die Doppelmoral der Führungskader, die von ihren Fußsoldaten einen asketischen Lebensstil einforderten, aber für sich selber gehobene Verhältnissen vorzogen [20:160], mit der Gruppe. Wer hohe Erwartungen bezüglich Freundschaft, Loyalität und Kameradschaft hat, ist einem höheren Enttäuschungsrisiko ausgesetzt, wenn das Leben innerhalb militanter Gruppen von Paranoia, Misstrauen, Hinterhältigkeit und Verrat geprägt ist. Äußerer Druck und die Angst vor Unterwanderung generieren starke Verfolgungsängste innerhalb der Gruppe, die häufig dazu führen, dass sich die Gruppenmitglieder gegenseitig der Spitzelei oder des Verrats zeihen. Auch die Verbreitung von Gerüchten oder Skandalgeschichten über Gruppenmitglieder ist in manchen Gruppen – besonders in einigen der von mir untersuchten Neo-Nazi-Gruppen – gängige Praxis [2:217-219; siehe auch 20:160].
Ein gutes Beispiel liefert auch der Fall des britischen Islamisten Maajid Nawaz, der bei seiner Einreise nach Ägypten verhaftet wurde und jahrelang in ägyptischen Gefängnissen vor sich hin rottete. Keiner seiner islamistischen Freunde versuchte, ihm zu helfen oder ihn auch nur zu kontaktieren – er wurde stattdessen seinem eigenen Schicksal überlassen. Die einzigen Personen, die sich für ihn einsetzten und versuchten, seine Freilassung zu erwirken waren – Überraschung – von Amnesty International. Als er schließlich freigelassen wurde, stieg er aus der islamistischen Bewegung aus und wurde Mitgründer der Quilliam Foundation, einem britischen Thinktank, dessen Arbeit gegen Radikalisierung gerichtet ist.
Für diejenigen, deren Hauptmotivation sich aus einem Zugehörigkeitsbedürfnis speist, kann die Bindung an die radikalisierte Gruppe oder Zelle durch alternative Gruppen oder neue ‚signifikante andere‘ ersetzt werden. Auch Loyalitätskonflikte sowie neue Verpflichtungen und die Verschiebung von Prioritäten, wie sie sich bspw. aus der Hinwendung zu einem neuen Lebenspartner oder der Geburt von Kindern (mit den einhergehenden elterlichen Verpflichtungen) ergeben, können zu einer Abkehr von der Gruppe führen. Interessanterweise versuchten sowohl – jeweils auf unterschiedliche, kulturspezifische Weise – das Exit-Projekt, das den Ausstieg aus rechtsextremistischen Gruppen erleichtern soll, als auch das saudische Wiedereingliederungsprogramm für Jihadisten, Familien und zukünftige Lebenspartner zu involvieren, um ehemalige Aktivisten zu resozialisieren. Das saudische Programm half sogar bei der Anbahnung und Finanzierung von Hochzeiten [9:217]. Auch das Exit- Programm war sich der reintegrierenden Effekte bewusst, die Partnerschaften außerhalb der militanten Szene mit sich bringen. Im komplizierten skandinavischen Kontext bleibt das Engagement darauf beschränkt, Klienten beim Einstieg in Gruppen und Aktivitäten des sozialen Mainstreams zu helfen, in denen die Chance besteht, Personen des anderen Geschlechts zu begegnen [2:222, 5:140].
Sozial frustrierte Jugendliche
Sozial frustrierte Jugendliche hingegen beschreiten einen anderen Weg der Radikalisierung hin zu Militanz und Terrorismus. Gewöhnlich haben sie persönliche (reale oder eingebildete) Erfahrungen mit Diskriminierung, Chancenungleichheit und das Gefühl, keine Aussicht auf eine gute Zukunft zu haben [23, 2:49-50, 330- 332]. Diese Jugendlichen weisen nur ein begrenztes Maß an Bildung oder anderem sozialen Kapital auf und leiden unter Arbeitslosigkeit und anderen wirtschaftlichen Problemen. Gewöhnlich haben sie (zumindest am Anfang) keine klaren extremistischen Vorstellungen und keine gefestigte Ideologie. Gewalt gegen Gegner gründet sich weniger auf Ideologie oder politische Strategie als auf ein diffuses Gefühl der Wut. Im extremsten Fall dieses Spektrums handelt es sich um kriminelle und marginalisierte Personen aus negativen sozialen Hintergründen mit einem vergleichbaren Lebenslauf und langem Vorstrafenregister. Tendenziell handelt es sich dabei um arbeitslose Schulabbrecher. Der familiäre Hintergrund ist besonders problematisch: zerrüttete Familienverhältnisse, drogensüchtige Eltern, Gewalt als familiäres Erziehungs- und Kommunikationsmittel, Familien, die Kriegsopfer in ihren Reihen beklagen oder andere traumatische Erfahrungen gemacht haben. Diese Jugendlichen sind erlebnisorientiert, aggressiv und hochgradig gewaltbereit. Gewalt ist dabei aber jedoch kein Mittel im politischen Kampf, sondern ein alltägliches Instrument der Konfliktlösung [23]. Dieser Typus ist kein idealistischer Aktivist, sondern greift zur Bewältigung persönlicher Probleme zum gewalttätigen Aktivismus [17:93-4]. Dieses Rekrutierungs- und Radikalisierungsmuster im Jihadismus wurde auch als eine Form der persönlichen Erlösung oder Errettung, des „Selbstheilens“ oder der Umwandlung beschrieben. Trotz ihres problematischen Hintergrunds und ihres Mangels an Disziplin können solche Personen Aktivposten der Gruppe sein. Und zwar nicht nur auf Grund ihrer Gewaltbereitschaft und -erfahrung, sondern auch aufgrund weiterer krimineller Kompetenzen, die unter Umständen für die Finanzierung der Gruppe von Nutzen sein können. Diese Personen schließen sich terroristischen oder andern militanten Gruppen oft an, weil sie von Gewalttätigkeit, Militanz und Aufregung angezogen werden. Sie lassen sich anziehen von der phantastischen Vorstellung von Abenteuer und Heldentum im militanten Kampf, die als ultimative Erfüllung des maskulinen Ideals, ein echter Mann zu sein, gilt. Die Realität kann allerdings enttäuschend sein. Das Leben als Terrorist, das ewige und ereignislose Warten auf Action, kann höchst langweilig sein. Andererseits gibt es oft mehr Action, als ihnen lieb ist. So anspruchsvoll es sein kann, der Jäger zu sein, so ist es doch ungleich aufreibender und beschwerlicher, der von Polizei, Armee und Geheimdiensten Gejagte zu sein. Auch die Realität, andere Menschen tatsächlich zu töten oder zu verletzen, kann schockierend sein. Die Schreie, der Schmerz und das Leid der Opfer, die häufig unschuldige Zivilisten sind, können Schuldgefühle verursachen und der Tod oder das Leiden verwundeter Kameraden sind überhaupt nicht so heldenhaft wie gedacht.
Sozio-ökonomische Maßnahmen können hinsichtlich derer, die von Diskriminierung, Arbeitslosigkeit und verschiedenen anderen Formen sozialer, ökonomischer oder kultureller Marginalisierung bedroht sind, eine präventive Funktion übernehmen. Dies mag für einen Teil der Terrorismusanhänger in Europa zutreffen, aber wohl kaum für die Mehrheit. Einige Maßnahmen sollten auf die Gesamtbevölkerung oder Minoritäten innerhalb der Bevölkerung (Immigranten) gerichtet sein, um die allgemeine Integration in die Gesellschaft (primäre Prävention) zu fördern; andere Eingriffe sollten auf Risikogruppen gerichtet sein, wie bspw. Jugendliche aus armen muslimischen Schichten aus innerstädtischen Gebieten (sekundäre Prävention); und einige soziale Maßnahmen sollten sich speziell an junge Menschen richten, die bereits in extremistischen Gruppen involviert sind, beispielsweise Jobtrainings, die soziale Interaktion mit positiven Vorbildern beinhalten und die Perspektive auf eine positivere Zukunft eröffnen (tertiäre Prävention).
Abschließende Bemerkungen
Der Einstiegsprozess in militante Extremistengruppen steht in wichtigem Zusammenhang mit dem Ausstiegsprozess. Einer der Hauptfaktoren für den Ausstieg kann die Enttäuschung über das sein, was zunächst die Attraktion der Gruppe oder der Bewegung ausgemacht hat – bspw. politische Ziele, die Suche nach Freundschaft oder ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Gebrauchtwerdens. Der Ausstieg ist aber alles andere als eine einfache Umkehrung des Einstiegsprozesses in den militanten Extremismus. Aktivisten neigen im Verlauf ihrer extremistischen Karriere sowohl zu einem Werte- und Motivationswandel als auch zu einem Wechsel der Rolle und Position innerhalb der militanten Gruppe. Was den Einstieg in die Militanz begründet, muss nicht identisch sein mit dem, was den Verbleib in der Gruppe motiviert. Dennoch gilt, dass ein besseres Verständnis der Prozesse, die zur Desillusionierung der verschiedenen Aktivistentypen beitragen, Möglichkeiten eröffnen, diese Prozesse zu verstärken. Ebenso kann das bessere Verständnis eine höhere Ausstiegsrate aus extremistischen Gruppen und Aktivitäten bewirken.
Der Autor
Professor Dr. Tore Bjørgo ist Professor für Polizeiwissenschaft an der Politihøgskolen, Oslo. http://www.phs.no/en/researchers/tore-bjorgo/
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