Einfache Antworten in schwierigen Zeiten – Was macht salafistische Prediger attraktiv?

Götz Nordbruch, Jochen Müller, Deniz Ünlü| INTERVENTIONEN – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik | Ausgabe 3/2013

Der Salafismus ist eine radikale Strömung des Islam, die für sich in Anspruch nimmt, die Religion auf die einzig wahre Weise zu leben. Gleichwohl gibt es auch unter Salafisten Unterschiede: Während einige ihre Religion eher pietistisch leben und andere durch ihr Beispiel überzeugen wollen, sehen andere Salafisten ihre Aufgabe in einer aktiven Dawa, der Missionierung zum Islam in Fußgängerzonen, mit Vorträgen oder im Internet. Für sie geht es darum, den Islam in der Gesellschaft durchzusetzen. Und wieder andere, die Dschihadisten, halten den Kampf gegen alle Ungläubigen für die Pflicht eines jeden Muslims – wobei Gewalt ausdrücklich gebilligt wird. Im folgenden Beitrag stehen allgemeine Aspekte des salafistischen Weltbildes im Mittelpunkt, die für muslimische – aber auch für nicht-muslimische – Jugendliche attraktiv sein können.

„Es ist nie zu spät“, um zu Gott zurückzukehren, erklärt Pierre Vogel in einem Video, mit dem er sich zu Beginn des Fastenmonats Ramadan an muslimische Rapper in Deutschland wendet. „Drogen, Frauen, schlechte Dinge, Gewalt“ – all dies seien Sünden, von denen man sich abwenden möge, bevor die Chance zur Rückkehr und damit zur Rettung vor der Hölle vertan sei. Die eigentlichen Adressaten dieser Warnung sind nicht Musiker wie Bushido, Haftbefehl oder Sadiq, sondern alle Jugendlichen, die sich vom Gangsta-Image dieser Rapper angesprochen fühlen. Ihnen versprechen salafistische Prediger wie Pierre Vogel antworten auf Fragen, die sich vielen Jugendlichen beim Übergang von Schule ins Berufsleben stellen: Wer bin ich? Wo will ich hin? Wie will ich leben? Mit der „einzig wahren Religion“, so lautet die Botschaft des Salafismus, ist man auf der richtigen Seite, Teil einer festen Gemeinschaft und auf dem Weg ins Paradies. Klare Regeln treten an die Stelle von Fragen und Gewissenskonflikten, rituale strukturieren den Alltag.

Die Suche nach Sinn und Orientierung stellt für viele Jugendliche unabhängig von Herkunft und Religionszugehörigkeit eine große Herausforderung dar. Für junge Migranten und Muslime kommen bei dieser Suche Konflikte hinzu, auf die sich nicht ohne Weiteres Antworten finden lassen. Im Widerstreit der eigenen Wünsche und der Erwartungen von Gesellschaft („Integrier dich!“) und Elternhaus („Wir wollen dich nicht verlieren!“) geraten manche Jugendliche in die Sackgasse – und werden empfänglich für Ideologien, die einfache Lösungen zu bieten scheinen.

Seit 2005 sind in Deutschland zahlreiche Gruppen entstanden, die öffentlich für salafistische Vorstellungen werben. Mittlerweile gibt es bundesweit dutzende Initiativen und Vereine, die diesem Spektrum zuzuordnen sind. Mit Namen wie „Die wahre Religion“ und „Einladung zum Paradies“ versprechen sie ihren Anhängern eine klare Perspektive: das Wohlgefallen Gottes und die Aufnahme ins Paradies. damit wenden sie sich an Muslime, aber auch an Nichtmuslime, die auf der Suche nach Identität und Orientierung sind.

Salafisten behaupten, die einzig wahre Form des Islam zu leben. Sie nehmen für sich in Anspruch, exklusiv über die Wahrheit der Religion zu verfügen. All jene Muslime hingegen, die ihre Vorstellungen nicht teilen, gelten als Abweichler vom Islam, wie er von Mohammed gelehrt wurde. Dabei orientieren sich Salafisten in vielen Fragen unmittelbar am Wortlaut des Koran und der Erzählungen aus dem Leben des Propheten (der Sunna). Jeder Versuch, die Formulierungen des Koran und der Sunna zu hinterfragen und auf den heutigen Kontext zu übertragen, wie es in der islamischen Geistesgeschichte über Jahrhunderte selbstverständlich war und für die meisten Muslime auch heute noch gang und gäbe ist, verstößt aus dieser Sicht gegen die Unveränderlichkeit der göttlichen Botschaft.

Und noch etwas ist für die meisten Salafisten charakteristisch: Sie sehen jeden Muslim in der Pflicht, aktiv für den Islam zu werben. daher kommt der „da’wa“, dem „Einladen zum Islam“, im Leben der Salafisten eine besondere Bedeutung zu. dazu gehört die Bekehrung von Nicht- Muslimen genauso wie das Bemühen, auch solche Muslime, die vom salafistischen Verständnis des Islam abweichen, auf den „richtigen Weg“ zurückzuführen. Einige gehen dabei soweit, andere Muslime als ungläubige („kuffar“) zu denunzieren, nur weil sie den Islam anders leben. Dies reicht in manchen Fällen bis hin zur Androhung von Gewalt, die aus Sicht radikaler Salafisten gegen Menschen gerechtfertigt ist, die vom „wahren Islam“ abweichen.

Der missionarische Eifer wird vor allem im Internet sichtbar. Mittlerweile gibt es dutzende deutschsprachiger Webseiten aus dem salafistischen Spektrum – allein auf Youtube stehen hunderte Videos zum Download zur Verfügung, in denen für salafistische Ideen geworben wird. Die Botschaften sind einfach: der Islam ist ein klares Regelwerk, dem der Mensch folgen muss. An Gottes Wort gibt es nichts zu deuten, für alle Situationen lassen sich aus den islamischen Schriften eindeutige Vorgaben ableiten, die das richtige Handeln der Menschen für alle Zeit festlegen. Verhält sich der Mensch so, wie Gott es vorgesehen hat, stehen ihm die Tore offen für ein Leben im Paradies.

Die Themen, die in den Vorträgen und Diskussionsforen behandelt werden, betreffen dabei nicht nur die großen theologischen Fragen nach dem Wesen Gottes, dem Ursprung der Welt oder dem leben nach dem Tod. Häufig stehen ganz irdische Fragen im Vordergrund: darf ich zur Geburtstagsfeier meines christlichen Freundes? Ist Haribo halal, also mit den islamischen Speiseregeln vereinbar? Darf ich als Muslim zur Bundeswehr? Wie verhalte ich mich als Neumuslim gegenüber meinen nichtmuslimischen Eltern? Für Jugendliche sind solche Fragen Alltag – bei Eltern, Imamen oder Lehrern suchen sie oft vergeblich nach Antworten. Salafisten schließen diese Lücke und werden zu Ansprechpartnern, wo andere Angebote fehlen.

Allerdings beschränken sich salafistische Initiativen nicht auf Belehrungen und Mahnungen. Ebenso wichtig sind gemeinsame Aktivitäten im Alltag, bei denen sich der Einzelne als Mitglied der Gemeinschaft erfährt. das gemeinsame Übernachten in der Moschee, organisierte Ausflüge in Parks mit Grillen und Fußballspielen und das treffen unter Frauen sind nur einige der Aktivitäten, die hier angeboten werden – und über die ausführlich in Videos berichtet wird. Als „Bruder“ oder „Schwester“ wird man Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft.

Diese Gemeinschaft, so wird hier suggeriert, ist umso wichtiger in einer Welt, die Muslimen angeblich feindselig gegenübertritt. Die Konflikte in Afghanistan, in Israel/Palästina oder zuletzt in Syrien gelten ihnen als Beleg für einen weltweiten Kampf der ungläubigen gegen die Muslime. Und dieser Kampf, so behaupten sie, betrifft auch die Muslime in Deutschland, schließlich gäbe es auch in Deutschland immer wieder Diskriminierungen und Anfeindungen gegen Muslime. Zum Beispiel die Demonstrationen, mit denen Rechtspopulisten im Sommer 2012 vor Moscheen provozierten. oder der Mord an der Muslimin Marwa El-Sherbini in einem Gerichtssaal in Dresden im Juli 2009, der von Salafisten instrumentalisiert wurde, um Ängste zu schüren. So warnte der bekannte Prediger Pierre Vogel in den Wochen nach dem Mord vor einem Holocaust, der Muslimen in Deutschland drohe. Die Botschaft lautet: „Schließt Euch unserer Gemeinschaft an, gemeinsam sind wir stark!“ Die Maßlosigkeit einer solchen Warnung vor einem Holocaust ist für außenstehende offensichtlich; manche Jugendliche und Heranwachsende, die im Alltag mit Ressentiments und Diskriminierungen konfrontiert sind, fühlen sich durch solche Warnungen dennoch angesprochen. Sie bieten Erklärungen für Erfahrungen, die von Nichtmuslimen – seien es Freunde, Lehrer oder Kollegen – oft allzu leichtfertig als Hirngespinste abgetan werden.

Dabei geben sich Salafisten als „Gegenkultur“, die sich dem Konsum, dem Materialismus und der „Unmoral“ der Umwelt entgegensetzt. Als wahrhaft Gläubige präsentieren sie sich als Avantgarde, die für das einzig richtige streitet.

Für die meisten Muslime – ganz egal welchen Alters – sind die Botschaften, die von Salafisten in ihren Vorträgen und Videos verbreitet werden, ein Ärgernis. Die Absolutheit, mit der Salafisten die Wahrheit beanspruchen, und die Vehemenz, mit der sie missionieren, trifft bei ihnen auf Unverständnis und Ablehnung.

Auch von islamischen Theologen wurde die Gefahr, die von den einfachen Antworten der Salafisten ausgeht, erkannt. Daher versucht Bülent Ucar, Professor für Islamische Religionspädagogik an der Universität Osnabrück, dem Weltbild von Predigern wie Pierre Vogel mit theologischen Argumenten entgegenzuwirken. So fordere der Koran die Gläubigen immer wieder auf, sich selbst Gedanken über das richtige Handeln und den Umgang mit anderen zu machen. Klare Vorgaben lassen sich aus dem Koran aus seiner Sicht eben nicht für alle Fragen ableiten, umso wichtiger sei das selbstverantwortliche und vernunftgeleitete Überlegen der Gläubigen: der Mensch soll nicht blind folgen, sondern auch selbst Antworten entwickeln, die ihn im Leben leiten.

Mündigkeit in religiösen Fragen ist eine wichtige Voraussetzung, um der Attraktivität salafistischer Angebote entgegenzuwirken. Dies gilt in ähnlicher Weise auch für die ganz weltlichen Fragen, die sich vielen Jugendlichen stellen. Auch hier gilt es, Alternativen aufzuzeigen und Jugendliche zu einer reflektierten Entscheidung darüber anzuregen, wie sie selbst ihr Leben gestalten möchten.

 

Was macht den Salafismus attraktiv?

Die Gründe, die den Salafismus für manche Menschen attraktiv machen, sind so vielfältig wie die Biographien seiner Anhänger. Zu ihnen zählen Studenten genauso wie ehemalige Gangsta-Rapper, Jugendliche mit Migrationshintergrund genauso wie Herkunftsdeutsche und Konvertiten. Auch Frauen sind unter den Salafisten in relativ großer Zahl vertreten. Dennoch lassen sich einige Gründe benennen, die den Salafismus gerade für Jugendliche und junge Heranwachsende interessant machen können. Sie lassen sich auf die kurze Formel WWGGG bringen:

  • Der Salafismus bietet Wissen: Jugendliche interessieren sich für „ihre“ Religion und suchen nach Informationen in einer Sprache, die sie verstehen. In vielen Moscheen der großen islamischen Verbände beschränkt sich der Islamunterricht auch heute noch aufs Auswendiglernen von Texten, die den meisten Jugendlichen unverständlich bleiben. Und viele Imame sind mit den Fragen überfordert, die junge Muslime an sie stellen. Ist es erlaubt, James Bond zu gucken? Darf ich in Deutschland zur Wahl gehen? Salafistische Prediger kennen die deutsche Gesellschaft und wissen um die Konflikte, denen Jugendliche begegnen. Sie greifen Themen auf, die vielen Imamen fremd bleiben.

 

  • Salafisten behaupten, die Wahrheit zu kennen: In der salafistischen Weltsicht gibt es keine Zwiespälte und keine offenen Fragen. Die Welt lässt sich in richtig und falsch, gut und böse, moralisch und unmoralisch unterteilen. Ein solches Schwarzweißdenken ist den meisten Menschen fremd, dennoch kann es in bestimmten Situationen attraktiv sein. Es bietet klare Orientierung, wo Interessen aufeinanderstoßen und Werte abzuwägen wären. Und es befreit von der Last, zu hinterfragen und eigene Antworten zu entwickeln, wo Menschen sich begegnen und Entscheidungen getroffen werden müssen. So entkommt man auch der Verantwortung, die einem das eigene Handeln auferlegt. Wenn etwas von Gott befohlen ist, bin ich selbst für mein Tun nicht verantwortlich.

 

  • Schließlich fordern Salafisten Gehorsam: Das Reiben an Autoritäten und das Aufbegehren gegen Gewissheiten ist typisch für viele Jugendkulturen. Aber die Auseinandersetzung mit etablierten Vorstellungen kann auch anstrengend sein. Der Salafismus nimmt einem die Last, die eigene Identität in der Auseinandersetzung mit den Eltern und der Umwelt zu entwickeln. Der Gehorsam gegenüber Gott – und gegenüber den oft sehr charismatischen Führern der salafistischen Gruppen – tritt hier an die Stelle von Fragen, wie man selbst leben möchte.

 

  • Salafisten versprechen Gemeinschaft: Als „Bruder“ oder „Schwester“, wie sich Salafisten untereinander ansprechen, ist man Teil einer eingeschworenen Gemeinschaft. Man teilt den Glauben, aber auch viele andere Dinge, die den Alltag bestimmen. Dabei kann man auch auf die Solidarität der „Geschwister“ hoffen, wenn man selbst einmal in familiäre oder emotionale Krisen gerät. Die Gemeinschaft bietet ein Netz, das einen auffängt, wo andere Bindungen gerissen sind. Und es ist klar, welche Rolle von einem erwartet wird: Als Mann ist man „großer Bruder“ und für Jüngere väterliche Autorität, als Frau emotionale Stütze und Hüterin über Fragen, die das Wohlergehen der Gemeinschaft betreffen. Dies ist auch ein Grund, warum der Salafismus auch für manche Frauen attraktiv ist: Rollenkonflikte, in denen sich viele junge Frauen befinden, werden hier scheinbar gelöst. Als gläubige und gottergebene Mutter und Begleiterin des Mannes entkommt sie der schwierigen Entscheidung, für sich selbst einen Weg zwischen Familie und Karriere zu finden. Klare Rollenbilder treten an die Stelle von Selbstzweifeln und mühseligen Diskussionen über Gleichberechtigung und Emanzipation.

 

  • Und Salafisten betonen, sie kämpfen für Gerechtigkeit: Erfahrungen mit Ungerechtigkeit und das Wissen um Leid und Elend in vielen Teilen der Welt prägen das Erleben vieler Jugendlicher. Das ist ein Grund, weshalb sich Jugendliche politisch engagieren. Salafisten greifen die Empörung über Ungerechtigkeiten auf und instrumentalisieren sie für ihre Zwecke. Dabei geht es ihnen nicht darum, über die Hintergründe von Konflikten wie im Irak, Afghanistan oder Syrien zu informieren. Sie „erklären“ diese Konflikte als Teil eines weltweiten Kampfes zwischen Recht und Unrecht, in dem der Einzelne eine Seite wählen müsse. Salafisten sehen sich dabei als Avantgarde, die für das Gute, d.h. für die Sache der Muslime und den Islam kämpfen. Sie schüren eine Opferideologie, in der der Widerstand zur Pflicht eines jeden Muslim wird – und fördern damit die Bereitschaft zur Gewalt, die in Aufrufen zum Dschihad zum Ausdruck kommt. In der Empörung über die Ungerechtigkeiten in der Welt wird der Kampf gegen die Ungläubigen zu

 

 

Die Autoren

Dr. Götz Nordbruch und Dr. Jochen Müller sind Islamwissenschaftler und Gründer des Berliner Vereins ufuq.de – Jugendkultur, Medien und politische Bildung in der Einwanderungsgesellschaft. Deniz Ünlü ist Sozialwissenschaftlerin an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Hamburg (HaW). Gemeinsam arbeiten sie gegenwärtig im bundesweiten Projekt „Islam, Islamismus und Demokratie“, in dem es u.a. um die Prävention salafistischer Einstellungen sowie islamfeindlicher Einstellungen in Schulklassen und Jugendeinrichtungen geht. Dazu haben HaW und ufuq. de gemeinsam eine Kurzfilmreihe mit Begleitmaterialien für die pädagogische Arbeit erstellt. Das Projekt wurde im Rahmen der Initiative Demokratie Stärken vom BMFSFJ (2010-2013) gefördert.