Von Patrick Möller
Dieser Aufsatz erschien zuerst in: Ligante – Fachdebatten aus der Präventionsarbeit, Ausgabe #1: „Herausforderungen online & jenseits des Salafismus“
Die Gruppierung Hizb ut-Tahrir, offiziell Hizb ut-Tahrir al-Islami („Islamische Befreiungspartei“), wurde 1953 im heutigen Jordanien vom Palästinenser Taqi ud-Din an-Nabhani gegründet. Sie strebt einen Unterwanderungsprozess der staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen an, um einen Umwälzungsprozess und die eigene Machtübernahme zu erreichen. Aktiv ist die Hizb ut-Tahrir in über 40 Ländern, wobei sie in den meisten mehrheitlich muslimischen Ländern verboten ist. In den westlichen Ländern (bis auf Deutschland) ist sie hingegen legal. Die Vereinigung der Muslim*innen unter einem weltweiten Kalifat ist das Ziel dieser panislamistischen Bewegung, die ursprünglich auch als radikale Alternative zur Muslimbruderschaft aktiv war. Laut einer Einschätzung des Verfassungsschutzes in Berlin zählt die Hizb ut-Tahrir zur Unterkategorie jener gewaltbereiten Islamist*innen, die Gewalt zur Zielerreichung befürworten, sie selbst aber nicht anwenden.
In Deutschland ist die Hizb ut-Tahrir vor allem im universitären Bereich aktiv, im Januar 2003 wurde die Gruppierung jedoch vom damaligen Bundesinnenminister Otto Schily verboten. Daraufhin verlegte die Hizb ut-Tahrir ihre Aktivitäten in den Untergrund und ist dort weiterhin aktiv: 2017 wurden rund 350 Personen der Hizb ut-Tahrir zugerechnet. In der muslimischen Community und der radikalislamischen Szene jedoch ist sie zumeist isoliert und wird gar verachtet, wobei vor allem Salafist*innen sie auch theologisch angreifen. Seit 2012 ist eine deutliche Zunahme radikalislamischer Facebook-Seiten mit Bezügen zur Hizb ut-Tahrir zu verzeichnen. Sie werden zumeist von Privatpersonen geführt, die der Gruppierung angehören oder ideologisch nahestehen. Einige der Anhänger*innen bewegen sich trotz ideologischer Differenzen auch im salafistischen Milieu. So wurden Beiträge geteilt, die von Salafist*innen oder sogar Dschihadist*innen stammen. Als 2012 im Netz Videos eines jungen Predigers mit dem Pseudonym Ibn Yakub erschienen, tauchten seine Beiträge auch auf der Website der radikalen salafistischen Missionarsbewegung „Die wahre Religion“ auf. Seine Reden überschneiden sich mit den Lehren der Hizb ut-Tahrir.
2015/2016 trat er auch in Videos der Initiative Generation Islam auf, deren Inhalte immer wieder starke Indizien für eine ideologische Nähe zur Hizb ut-Tahrir sind. Generation Islam wurde 2013 gegründet und behandelt aktuelle politisch-gesellschaftliche Themen, so auch Diskriminierung und Islamfeindlichkeit. Die Bewegung betreibt Manipulation und Propaganda, schürt Feindbilder, verbreitet eine Opferideologie und Verschwörungstheorien. Neben Generation Islam existiert noch ein weiterer Zusammenschluss, Realität Islam, der 2015 gegründet wurde. Ähnlich wie Generation Islam setzt auch Realität Islam den Islam als Lebensordnung. Im Jahr 2016 gab es mehrere Veranstaltungen im Rhein-Main-Gebiet, an denen Hunderte Besucher*innen, darunter vor al-lem Jugendliche, teilnahmen. Anders als Generation Islam ist Realität Islam verstärkt offline aktiv.
Es ist nicht endgültig geklärt, ob die Hizb ut-Tahrir durch ihre Netzwerke und Plattformen wirklich neue Anhänger*innen für sich gewinnen kann. Es gelingt ihr jedoch, radikalislamische Ideologien zu verbreiten und zur Feindschaft gegenüber dem Staat und der Gesellschaft aufzurufen. Dies geschieht, ohne dass den „normalen“ Internetnutzer*innen klar ist, welche Personen und Intentionen hinter dem Netzwerk stecken. Im April 2018 startete Realität Islam eine Petition gegen ein in Nordrhein-Westfalen diskutiertes Kopftuchverbot für unter 14-jährige Mädchen. Dabei traten die Anhänger*innen auch in zahlreichen Fußgängerzonen in Großstädten auf und sammelten Unterschriften. Sie trafen einen zentralen Nerv bei den Muslim*innen, die sich durch die politische Debatte angegriffen und bedroht fühlten. Bis Ende Oktober unterzeichneten mehr als 170.000 Menschen die Petition. Ein „Erfolg“, der in der islamistischen Szene in Deutschland seinesgleichen sucht.
DISKUSSION: Die Ansprache der Hizb ut-Tahrir richtet sich nicht an Salafist*innen oder Radikale. An welchen Orten sucht die Hizb ut-Tahrir nach neuen Anhänger*innen? Die Hizb ut-Tahrir ködert Anhänger*innen unter anderem auf gewöhnlichen Facebook-Seiten, bei denen Jugendlichen oftmals gar nicht klar ist, welche Gruppierung hinter der Seite steckt und welche Absichten sie mit den Inhalten verfolgt. Genau das ist fatal, denn Jugendliche reflektieren die Inhalte oft wenig und lassen sich davon schnell mitreißen.
Weiterführende Literatur: Ahmed, Houriya / Stuart, Hannah (2009) Hizb ut-Tahrir – Ideology and Strategy. London. Anmerkung der Protokollantin: online verfügbar unter http://henryjacksonsociety.org/wp-content/ uploads/2013/01/HIZB.pdf (abgerufen am 17.11.2018).Pankhurst, Reza (2016) Hizb ut-Tahrir – The Untold History of the Liberation Party. London.
Der Autor: Patrick Möller studierte Islamwissenschaft an der Philipps-Universität Marburg und an der United Arab Emirates University in al-Ain, Vereinigte Arabische Emirate. Während seines Studiums konzentrierte er sich auf die Entwicklung des deutschen Salafismus und den Aufstieg des Dschihadismus. Seit 2015 arbeitet er im Bereich Qualifizierung für Violence Prevention Network e. V. in der Beratungsstelle Hessen in Frankfurt am Main.