Rechtspopulistische Einstellung als Kompensationsleistung von Souveränitätskrisen?

Sören Musyal | INTERVENTIONEN – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik | Ausgabe 11/2018

Rechtspopulistische Parteien und Politiker*innen sind inzwischen nicht mehr aus der politischen Landschaft wegzudenken. Mit Italien ist gerade erst ein Land hinzukommen, in dem eine solche Gruppierung nun an der Regierung beteiligt ist. Neu ist das Phänomen freilich nicht, doch spätestens seit dem Wahlerfolg Donald Trumps und dem Einzug der Alternative für Deutschland (AfD) in den Bundestag ist man hierzulande auf der Suche nach Erklärungen für den Erfolg. Die Ansätze lassen sich dabei grob in drei Gruppen einordnen: Mal wird Rechtspopulismus als Symptom für eine Krise der repräsentativen Demokratie gesehen, mal als Ausdruck einer sozialen Spaltung, mal als eine kulturelle Spaltung der Gesellschaft. Vor allem die beiden letztgenannten Erklärungsansätze scheinen sich dabei stets gegenseitig auszuschließen. Und so fehlt es noch immer an einer umfassenden Erklärung, die es vermag diese Dichotomie zu überwinden. Dies läge eigentlich nahe, finden sich doch empirische Belege für alle drei Interpretationen. Bisher wartet man jedoch vergeblich auf einen „einenden“ Ansatz. Vielleicht auch, weil es an verbindenden Begrifflichkeiten fehlt. Dieser Debattenbeitrag wird sich dementsprechend an einer Ursachenbeschreibung versuchen, die den Erfolg des Rechtspopulismus als Souveränitätsproblem beschreibt und damit die Möglichkeit schafft, alle drei oben genannten Ansätze zu vereinen. Es handelt sich hierbei um eine Skizze, die zur Diskussion steht und in Zukunft auszuarbeiten sein wird.

 

Einführung

Neben der Wissenschaft ist es auch die Politik, die sich fragt, woher der Erfolg des Populismus im Allgemeinen und des Rechtspopulismus im Speziellen kommt. „Was ist verkehrt gelaufen?“ Was machen wir falsch?“, fragen sich PolitikerInnen landauf und landab. Ein jüngeres Beispiel liefert Sigmar Gabriel im Spiegel. In einem Beitrag mit dem Titel „Sehnsucht nach Heimat“[i] versucht er die Fehler der Sozialdemokratie zu erkunden und einen Weg aus der Krise zu finden, in der sich die Partei befindet. Dabei bewegt er sich, wie fast alle Analysen, in einem Abwägen zwischen materialistischer und kultureller Argumentation. Gabriel entscheidet sich schließlich eher für letztere und schreibt: „Im Kern geht es aber um eine kulturelle Haltung und um Fragen nach Identität. In der unübersichtlich gewordenen Welt ist es genau diese Sehnsucht nach Identität, die auch einen großen Teil unserer Wählerinnen und Wähler umtreibt“. Die These, die dahintersteckt, lautet dann verkürzt in etwa so: Die Welt sei immer komplexer geworden und die „Postmoderne“ habe dazu beigetragen, dass alle Autoritäten dekonstruiert worden sind. Die Menschen plage daher vor allem die Sehnsucht nach Halt, nach Heimat – nach Identität. Die SPD habe es in den letzten Jahren versäumt, sich um jene Menschen zu kümmern, die von den globalen Entwicklungen überrollt wurden und sich nun nicht mehr in der Welt zu Recht fänden. Ihnen bliebe quasi keine andere Wahl mehr, als sich in die Arme der PopulistInnen zu flüchten, die mit Begriffen wie Heimat, Deutschland oder dem Volk ein solches Identitätsangebot machen. Der Haken an der Sache ist: Genau dies ist die Argumentation der Neuen Rechten und der RechtspopulistInnen. Und: Dieser Sicht liegt ein ziemlich konservatives Menschenbild zugrunde, demzufolge der Mensch immer etwas Übergeordnetes brauche, um zu seinem Glück zu finden. Dieses Menschenbild findet man bei Gegenaufklärern in Frankreich und Spanien, man findest es beim konservativen Vordenker Dostojewski, man findet es bei Carl Schmitt (vgl. Musyal 2016) und man findet es in der Zeitschrift „Sezession“ aus dem Hause des neurechten Instituts für Staatspolitik.

Dabei ist an der Diagnose, die Menschen fühlten sich orientierungslos, einiges richtig. Georg Lukásc hat Selbiges im Jahr 1914/15 in seiner Theorie des Romans „transzendentale Obdachlosigkeit“ genannt. Nietzsche schrieb in seinen Fröhlichen Wissenschaften 1882: „Gott ist tot“. Gemeint ist damit immer Dynamisierung der sozialen Welt in der Moderne und die damit verbundene Erosion des „geistigen Kosmos“ (Mannheim 1984, S. 109). Alte Gewissheiten werden durch Aufklärung, Wissenschaften und Fortschritt entkräftet. Das Problem hier ist: Dieser Prozess begann schon mit der Aufklärung und nicht, wie Gabriel nahelegt mit der „Postmoderne“ (das hieße dann irgendwann in den 70er-Jahren). Die Erklärung also, die Globalisierung und der Liberalismus trügen dazu bei, dass die Menschen sich zusehends unwohl fühlten, weil sie nicht mehr wüssten, woran sie eigentlich glauben sollen, greift zu kurz. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass die „transzendentale Obdachlosigkeit“ noch immer virulent ist. Es kann sogar argumentiert werden, dass Globalisierung und Digitalisierung dazu beigetragen haben, dass sich diese verstärkt hat. Doch erklärt dies eben nicht, warum genau jetzt, genau in den Jahren 2014-2017, eine Partei wie die AfD einen solch enormen Erfolg in Deutschland hat. Und es erklärt nicht, warum vor allem Gruppen aus den unteren und mittleren Schichten für die Partei stimmen. Haben diese Menschen ein stärkeres Bedürfnis nach Identität als andere?

Zweifelsohne: Die AfD macht ihren WählerInnen ein Identitätsangebot. Und sie tut es aus genau jenem Grund, den Sigmar Gabriel anführt. Demnach hätten Liberalismus, „Political Correctness“ und Re-Education nach dem zweiten Weltkrieg zu einem Niedergang nationaler Identität geführt. Man könne sich nicht mal mehr als Mann oder Frau fühlen, weil der „Genderismus“ selbst dies in Zweifel zieht. Und so lehnt sich die Neue Rechte, lehnt sich die AfD gegen all das auf, was soziale Identitäten zu bedrohen scheint: Globalisierung, US-Imperialismus, Gender-Studies, Homo-Ehe, die EU, offene Grenzen, Migration, Multikulturalismus, frühkindliche Sexualerziehung, das Recht auf Abtreibung etc. pp.

Alexander Gauland will sich „sein Volk zurückholen“. Dies geschieht über die Überaffirmation einer kulturellen (und ethnischen) Identität. In dieser Logik muss das Volk wieder Deutsch werden, um seiner beraubten Souveränität wieder habhaft werden zu können. VertreterInnen des Rechtspopulismus und der Neuen Rechten meinen das wörtlich. Doch liegt die Attraktivität dieses Angebots für eine Großzahl von WählerInnen und SympathisantInnen woanders. Der Rechtspopulismus spricht gewisse Affekte an, die durch bestimmte Ursachen hervorgerufen werden. Die Identität spielt nur eine untergeordnete oder besser: vorgelagerte Rolle. Denn was heißt es eigentlich, für eine rechtspopulistische Partei zu stimmen – eine Partei, die auf Ausgrenzung, Diskriminierung und Wut setzt?

Die These, die im Folgenden vertreten wird, lautet: Der Erfolg des Rechtspopulismus ist die Folge eines kriseninduzierten Aufkündigens von Solidarität. Er ist das Resultat eines Bedürfnisses nach Selbstbehauptung, das aufgrund deutlich spürbar gewordener Krisendynamiken und allgemeiner Tendenzen des Neoliberalismus[ii] nurmehr durch Gruppenidentität zu befriedigen geglaubt wird, obwohl die Ursachen eines wahrgenommenen Kontrollverlustes nicht in einem Verlust einer Identität liegen, sondern in einem Machtverlust – und damit in den ökonomischen Verhältnissen. Dabei führen die dem modernen Kapitalismus immanenten Dynamiken zu einer Verschleierung eben dieser Verhältnisse und sorgen für eine Verschränkung der kulturellen und der ökonomischen Sphäre. Kurz: Weil die Menschen die Kontrollprobleme in ihrem Leben nicht als vom wirtschaftlichen System ausgelöste wahrnehmen können, projizieren sie ihr eigenes Leid auf ein kulturelles Pendant.

Der Begriff der Kontrollprobleme verweist dabei auf die Ebene der Lebensführung von Individuen. Diese sind im Allgemeinen bestrebt, „das eigene Leben in den Griff zu bekommen. Die Kontrolle über das eigene Leben, die eigene Lebensplanung, sowie Alltagsgestaltung und Lebensführung sind elementare Bedürfnisse, denn nur so können Sicherheit erreicht sowie Zufriedenheit und Lebensqualität gewährleistet werden“ (Mansel & Spaiser 2010, S. 49). Wird die eigene Gestaltungsmöglichkeit in diesen Bereichen als unzureichend wahrgenommen, so erwächst das Gefühl von Kontrollproblemen. „Betroffene sind dann Situationen und Prozessen mehr oder minder ausgeliefert, weil sie Bedrohungen, Schädigungen und Verluste hinsichtlich der Lebensqualität nicht durch eigenes Handeln oder durch die Aktivierung sozialer Ressourcen aus ihrem Umfeld abzuwenden vermögen.“ (ebd.) Das Individuum verliert sozusagen die Souveränität über sein eigenes Leben.

Wenn nun Sigmar Gabriel moniert, dass die so genannte „Postmoderne“ Identitäten „dekonstruiert“ und das Individuum orientierungslos zurückgelassen hätte, so ist dies nicht von der Hand zu weisen. Es ist aber auch ein Prozess, der nicht erst seit gestern wirkt. Begriffe wie Heimat oder Nation haben schon vor den Erfolgen der RechtspopulistInnen ihre Bedeutung eingebüßt oder zumindest verändert. Gabriel setzt den Fokus auf kulturelle Argumente und verbaut sich damit selbst die Möglichkeit einer zutreffenden Analyse, statt seinen Blick auf zum Beispiel das von Rot-Grün eingeführte System zu richten, das Menschen am Gängelband führt und so jeder Form von Souveränität über ihr eigenes Leben beraubt.

 

Multiple Krisen

Denn der eigentlich wesentliche Punkt ist, dass die „multiplen Krisen“ (vgl. Demirović 2013) seit einigen Jahren auch in Deutschland spürbar geworden sind. Die Weltwirtschaftskrise 2007, die anschließende „Griechenlandkrise“ und natürlich die seit 2015 beklagte „Flüchtlingskrise“ sind Erscheinungen, die sich konkret auf das Leben der Deutschen ausgewirkt haben. Wenn Merkel und Steinbrück die Spareinlagen für „sicher“ erklären, dann soll dies zwar die Menschen beruhigen – gleichsam verdeutlicht es ihnen, dass es keineswegs in ihrer Macht steht, diese selbst zu sichern. Wenn die Rettungspakete für Griechenland für „alternativlos“ erklärt werden, weil ein Verweigern dieser zu unvorhersehbaren Folgen führen würde, belegt dies den Souveränitätsverlust auf nationaler wie individueller Ebene gleichermaßen. Wenn es zumindest so wahrgenommen wird, dass Angela Merkel die Grenzen für Geflüchtete öffnet und dies mit einem „humanitären Imperativ“ begründet, dann ist klar: Einem Imperativ hat man Folge zu leisten. Auf nationaler Ebene ist auch dies sicher kein neues Phänomen. Dass Nationalstaaten aufgrund von Digitalisierung, Globalisierung und Deregulierung längst die Souveränität über ihre eigene Volkswirtschaft eingebüßt haben, wurde unzählige Male aufzeigt (vgl. z.B. Vogl 2015, Crouch 2008, Streeck 2017). Das Problem aber ist, dass hieraus bisher kaum Konsequenzen gezogen wurden und ein Streit um ein neues Selbstverständnis Deutschlands (und Europas) kaum geführt wurde. Ein „Kampf um Selbsterhaltung“ (Demirović 2013, S. 205) ist entstanden, in dem Europa sich ernsthaft damit auseinandersetzen muss, dass es die ökonomische wie kulturelle Vormachtstellung in der Welt einzubüßen droht. Es bleibt abzuwarten wie ein solcher Kampf sich in Deutschland entfalten wird. Wie dieser aussehen kann, wird derzeit eindrücklich von Donald Trump demonstriert, der Russland und China zu Konkurrenten ausruft und bei jedem „Deal“ unterstreicht, dass gilt: „America first!“. Dieses Beispiel führt gleichsam vor Augen, wohin der Weg gehen kann, wenn man mit Begriffen wie Nation und Heimat hantiert, statt die wahren Probleme anzugehen.

In Zeiten, in denen durchaus wahrgenommen wird, dass Deutschland (ganz unabhängig von Verschwörungstheorien um nichtexistente Friedensverträge) an Souveränität eingebüßt hat, tut sich nicht nur auf der anderen Seite des Atlantiks eine Alternative auf. In Ungarn, Polen und der Türkei sind Regierungen im Amt, die sich die Wiedererlangung der nationalen Souveränität auf die Fahnen geschrieben haben. In Deutschland bedienen die AfD und die Neue Rechten denselben Reflex: Grenzen dicht und Grundrecht auf Asyl einschränken, raus aus dem Euro und mit einer „geschichtspolitischen Wende um 180 Grad“ endlich die vermaledeite Geschichte Deutschlands geraderücken – damit soll der Verlust der nationalen Souveränität negiert werden. Es scheint, als hätten die Nationalstaaten stillschweigend an Bedeutung verloren, ohne, dass ernsthaft über ein Zukunftsprojekt nachgedacht wurde. Arbeitsmarkt, Wirtschaft, Steuern, Finanzen, ja sogar die Grenzsicherung sind inzwischen Politikfelder, die nicht mehr allein in der Hand deutscher PolitikerInnen liegen. Was also ist Deutschland dann eigentlich noch? Wie Arjun Appadurai schon vor einem Jahrzehnt bemerkte, wurde der Nationalstaat in vielen Gegenden der Welt allmählich auf die Fiktion des Ethnos reduziert, die nun als letzte kulturelle Bastion erweist, über die er uneingeschränkt gebieten kann (Appadurai 1996). Wenn die Nation nicht mehr Herr im eigenen Haus und vor allem über den oikos, also den Haushalt, ist, dann bleibt nurmehr die Imagination über die eigene Kultur gebieten zu können. Wie es auch der Ethnopluralismus der Neuen Rechten formuliert, kann Deutschland dann nur der Raum der deutschen Kultur sein – so wie Italien nur noch der Raum der italienischen Kultur sein kann. Souveränität beschränkt sich dann auf die Definition dessen, was die deutsche Kultur ist und wer dessen TrägerIn sein darf. Dem Rechtspopulismus und der Neuen Rechten spielt diese Entwicklung in die Hände, weil sie ohnehin einen exklusiven Kultur- und Volksbegriff bedienen.

Auf dieser globalen bzw. nationalen Ebene (die nur eine der hier entscheidenden ist) ist der rechtspopulistische Ruf nach der Rehabilitierung des Patriotismus und des Nationalstolzes also zunächst einmal die Antwort auf eine Souveränitätskrise des Nationalstaats. Dass die Deutschen „endlich wieder stolz“ sein wollen auf ihr Land, ist hier aber nur vordergründig Ausdruck eines Bedürfnisses nach Identität. Viel mehr steht die Vitalisierung des Selbst im Vordergrund, die Selbstwirksamkeit. Dem wahrgenommenen Bedeutungs- und vor allem Kontrollverlust des deutschen Nationalstaates wird ein Narrativ der starken Nation entgegengesetzt, um aus dieser Selbstbehauptung heraus die Selbstwirksamkeit ableiten zu können. Frei nach Helmut Schelsky ist schließlich souverän, wer den Sachverhalt definiert (Schelsky 1975). In einer globalisierten, fiskalisierten Welt vermag dies nur noch selten ein einzelner Nationalstaat – auch wenn der aktuelle US-Präsident das nicht so sehen mag. Dieser Souveränitätsverlust wird von den Menschen als ein Grund für oben beschriebene Kontrollprobleme wahrgenommen.

Verknüpft sich nun die Krisenerfahrung der Makroebene mit der Mikroebene, entsteht eine Form des Nationalismus, der als „reaktiver Nationalismus“ (Dörre 2003, S. 112) bezeichnet werden kann. „Deutsch sein“ heißt dann, den eigenen Wohlstand zu verteidigen und gegen andere Gruppen zu verteidigen. Bevorzugte Ausgrenzungskriterien seien (wirtschaftliche) Nützlichkeit und Kultur (ebd.) – Narrative, die sich im Topos vom „kulturfremden Wirtschaftsflüchtling“ des Rechtspopulismus verbinden. Dass nun vor allem bestimmte sozialen Gruppen dazu neigen, Ressentiments gegen MigrantInnen zu hegen, ist vor diesem Hintergrund wenig überraschend. „Da es sich bei den Geflüchteten überwiegend um Menschen handelt, die auf dem Arbeitsmarkt erst einmal schwer bis gar nicht zu vermitteln sind, fiel die Lösung [der Flüchtlingskrise] günstig für die liberale Mittelschicht aus“ (Stegemann 2017, S. 119). Die „Willkommenskultur“, die über das Winken am Bahnhof hinausgeht, wird vom unteren Drittel der deutschen Gesellschaft eingefordert: Folgen wie die Belastung der sozialen Sicherungssysteme, rasant zunehmende Wohnungsknappheit und Lohndumping führten zu einer Fremdenfeindlichkeit, die eindeutig einen Klassencharakter habe (ebd.). Konkrete Folgen hat die so genannte Flüchtlingskrise für Menschen mit geringeren Einkommen und vor allem ohne Eigentum. „Wer Geld für gute Anwälte hat, muss keine Brandsätze in Unterkünfte werfen. Er kann sie auch vor Gericht verbieten lassen.“[iii] (ebd., S. 121) Ein reaktiver Nationalismus, der mit der Abwertung anderer einhergeht, hat also unmittelbar mit einem Bedrohungsgefühl zu tun. So stellen Mansel & Spaiser fest, „dass Kontrollprobleme und die damit korrespondierenden Erfahrungen und Befürchtungen ausschließlich zur Abwertung solcher Gruppen beitragen, mit denen sich Befragte in eine Konkurrenzsituation gestellt sehen. Sie neigen in stärkerem Maße zum Reklamieren von Etabliertenvorrechten sowie zu rassistischen, fremdenfeindlichen und islamophoben Ressentiments“ (Mansel & Spaiser 2010, S. 66). Dass sich vor allem bestimmte Bevölkerungsgruppen in ein Konkurrenzverhältnis versetzt fühlen, liegt auf der Hand. Dass die AfD – wie Richter & Bösch (2017) gezeigt haben – vor allem in strukturschwachen Regionen mit hoher Arbeitslosigkeit und geringem BIP mobilisieren konnte, verweist darüber hinaus jedoch auf einen weiteren wichtigen Aspekt: Es geht stets um das Gefühl der Bedrohung. Menschen in eben jenen Regionen fühlen sich bedrohter durch Krisen als Menschen in sozioökonomisch stärkeren Gebieten. Dies trägt dazu bei, dass auch über die Gruppe der unteren Einkommen hinaus Sympathien für RechtspopulistInnen empfunden wird, wenn sie Teil eines relativ deprivierten sozialen Umfeldes sind. Dieses soziale Umfeld muss als ein Kollektiv begriffen werden, dass sich in Bewegung befindet. Ob sich eine Klasse in einer Auf- oder Abwärtsbewegung befindet, ist entscheidend für die Wahrnehmung der Realität. Während die Kontostände, ja die gesamten Lebenslagen an sich identisch sein können, nehmen zwei Menschen ihre Lebenswelt unterschiedlich wahr, wenn sich ihr jeweiliges soziales Umfeld nach oben oder nach unten bewegt. Mehr noch: Selbst der Stillstand scheint in einer Welt, die steten Fortschritt und Wohlstand verspricht, eine Katastrophe zu sein. Will man wissen, wieso bestimmte Teile der Mittelschicht oder des Prekariats rechtspopulistisch wählen, muss man die Auf- oder Abwärtsmobilität ihres sozialen Umfeldes betrachten, nicht allein ihre individuelle Lebenslage. Denn dass es für alle bergauf geht, ist nicht mehr als eine leere Binse, in der – wenn überhaupt – in den Jahren der goldenen Fünfziger ein Fünkchen Wahrheit steckte. Die Gesellschaft befindet sich nicht (mehr) in Ulrich Becks Fahrstuhl – sie ist in den Paternoster gestiegen, in dem einige nach oben und andere nach unten fahren.

 

Sich verändernde Machtbalancen

Dabei sollte diese Erkenntnis keineswegs auf Jobchancen und Einkommen beschränkt bleiben. Das Selbstbild eines Menschen speist sich aus der Gesamtheit der Lebenswelt, d.h. eben auch aus der wahrgenommenen Position in der Gesellschaft, in der bestimmte Gruppe über und wiederum andere unter einem sich befinden mögen. Die „Abstiegsgesellschaft“ (Nachtwey 2016) führt nun dazu, dass sich dieses Gefüge verändert – und damit die gesamte Lebenswelt der sich in ihm Befindenden. Während etwa der industriell tätigen Mittelschicht dräut, dass die Automatisierung ihren Lebensstandard bedrohen wird, nimmt die gesellschaftliche Bedeutung von Freelancern mit Programmier-Kenntnissen zu. Obwohl ihre ökonomische Lage eine schlechtere sein mag, als die der erst genannten Gruppe, trotz ihrer Prekarität befindet sich ihr Milieu in einer Aufwärtsbewegung, während Teile der Mittelschicht von einem Abstieg bedroht sind.

Für sich als Etablierte begreifende Klassen stellt dies ein grundlegendes Problem dar. Nicht nur, dass ihr Selbstbild von einer gewohnten Position im Gesellschaftsgefüge abhängt; die Gesellschaft als Ganzes, samt ihrer Regeln, erhält ihren Sinn durch die Position. „Denn zivilisierte Verhaltensstandards sind für herrschende Gruppierungen vielfach nur so lange sinnvoll, wie sie, neben allen sonstigen Funktionen, Symbole und Werkzeuge ihrer Macht bleiben.“ (Elias 1992, S. 463) Gesellschaftliche Normen werden also nur so lange akzeptiert, wie sie zum eigenen Machterhalt beitragen. Ändern sich die Verhältnisse, ändert sich auch die Einstellung zur Gesellschaft als Ganzes. „Mit einem drohenden Machtverlust […] verbindet sich für die Angehörigen herrschender Formationen durchweg eine ernste Störung ihres Selbstbildes und oft genug eine völlige Zerstörung dessen, was ihrem Leben in den eigenen Augen Sinn und Wert verleiht; es droht ihnen damit zugleich ein Verlust ihrer Identität – ein Selbstverlust.“ (ebd., S. 462) Der Verlust der Identität ist hierbei aber eben nur ein Symptom: nicht dafür, dass etwa Begriffe wie Heimat ausgehöhlt wären, sondern dafür, dass viele Gesellschaftsgruppen Macht einbüßen.

Allein die so genannte Flüchtlingskrise hat also massiv zu einem Gefühl der Bedrohung (oder zur tatsächlichen Bedrohung) bestimmter Gesellschaftsgruppen geführt. Gleichzeitig aber ist diese Krise nicht der Auslöser bzw. die Verursacherin der hier so wichtigen Kontrollprobleme, sondern lediglich ein verstärkender Faktor. Betrachtet man die Ausformulierung dieses Begriffs fällt vor allem auf, dass die Studie von Mansel & Spaiser aus dem Jahr 2010 zwar vor dem Aufstieg der AfD entstand, aber gegenüber aktuellen Studien, die sich etwa mit „ModernisiserungsverliererInnen“ beschäftigen, einen enormen Vorteil aufweist: Die Autorinnen definieren Kontrollprobleme nicht nur anhand der Integration auf dem Arbeitsmarkt, sondern darüber hinaus mit weiteren Kriterien. So geben Mansel & Spaiser drei Sphären an, in denen Kontrollprobleme auftreten können: (1) Die individuelle Lebensführung, d.h. die Realisierung subjektiv gesetzter Prioritäten (2) die individuelle Alltagsgestaltung, d.h. die Handlungsmöglichkeiten innerhalb einzelner Lebensbereich (z.B. Familie oder Beruf) und (3) die individuelle Lebensplanung, d.h. die Einschätzung der Realisierbarkeit individueller Lebensziele (2010, S. 50). Darüber hinaus identifizieren sie Desintegrationsprozesse, die zu Kontrollproblemen führen: (1) individuell-funktionale, d.h. verweigerte Zugänge zu wichtigen gesellschaftlichen Teilsystem, Prekarität am Arbeitsmarkt und verwehrte Teilnahmechance an Konsum und Kulturangeboten, (2) kommunikativ-interaktive, d.h. wahrgenommene Möglichkeiten, an das soziale Gefüge bestimmende politische Entscheidungen mitzuwirken, und (3) kulturell-expressive, d.h. die Stabilität sozialer Beziehungen (ebd. S. 51). Es geht hier also nicht ausschließlich um ökonomische Voraussetzungen, sondern ebenso um die Wahrnehmung politischer Gestaltungsmöglichkeiten oder auch das soziale Umfeld, das gegebenenfalls persönliche Krisen auszugleichen vermag. Der starke Zuzug von Geflüchteten tangiert mit Sicherheit einige dieser Sphären, jedoch nur in Maßen. Viel eher ist davon auszugehen, dass gesamtgesellschaftliche Prozesse zu Kontrollproblemen führen.

So verweist Christoph Butterwege etwa darauf, dass „Konkurrenzfähigkeit im Zeichen der Globalisierung nicht nur ein Angelpunkt in zwischenstaatlichen Beziehungen [ist], sondern ebenso in der individuellen Lebensgestaltung“ (Butterwegge 2006, S. 22). Die wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahre haben Deutschland in eine „Abstiegsgesellschaft“ geführt, in der zwar nicht unbedingt alle vom Abstieg betroffen sind, der Gefahr eines solchen aber wesentlich realer ausgesetzt sind. Es entstünden Statuskämpfe um Anrechte auf Wohlstand, der bisher als sicher galt (ebd., S. 165). In dieser „anomischen“ Konstellation (vgl. Merton 1995) verlieren gesellschaftliche Normen an Geltung, die die Voraussetzung für die gesellschaftliche Integration bildeten. „Die Mitte kündigt zum Teil die Solidarität mit den Schwächeren auf; indem sie sich abgrenzt, vergewissert sie sich ihrer selbst.“ (Nachtwey 2016, S. 167) Die Lebensführung wird zum „Projekt des Statuserhaltes“ (ebd., S. 166) und immer feinere Schließungsmechanismen zielen auf eine Abschottung von der Parallelgesellschaft, in der man die Unterschicht vermutet. Gleichzeitig ist man weniger geneigt, „Diversitätszumutungen“ (Mau 2012, S. 162) hinzunehmen. Die wahrgenommenen Krisen führen letztendlich zu einer Verschiebung von „Solidaritäts-Grenzen“ (Göbel & Pankoke 1998, S. 463) einer Gesellschaft, weil diese angesichts erzwungener Selbstoptimierung nicht mehr plausibel erscheinen. Für Göbel & Pankoke bewegen sich diese Verschiebungen entlang verschiedener „Plausibilitätsschwellen“ (ebd.). Das heißt, dass zu einem bestimmten Zeitpunkt und unter bestimmten Bedingungen die Solidarität mit bestimmten Gruppen plausibler erscheinen mag als zu einem anderen Zeitpunkt. Der Rechtspopulismus beruft sich auf eine solche Schwelle, wenn er etwa im Rahmen des Ethnopluralismus einzelne Kulturen und Völker einem bestimmten Raum zuweist und „der Menschheit“ im Sinne Carl Schmitts eine Absage erteilt. Arnold Gehlens „Moral und Hypermoral“ (1969) wird in der Neuen Rechten (und inzwischen auch in einer sich links gerierenden „Political Correctness“-Kritik) mit Begeisterung rezipiert. Darin beschreibt der konservative Soziologe, der pflichtbewusst schon 1933 der NSDAP beitrat, Mitmenschlichkeit als „verhaltenspsychologisch greifbare Relation“ (Gehlen 1969, S. 464), die auf eine naturale Nähe begrenzt sei. Solidarität hätte demnach natürliche Grenzen und universalistische Gebote zur solidarischen Gleichbehandlung aller Menschen wären als der menschlichen Natur fremd abzulehnen. Eine solche Überbetonung einer Binnenmoral, wie sie hier bei Gehlen zu finden ist, weist nicht zufällig eine Nähe zur Freund-Feind-Bestimmung Carl Schmitts (1932) auf. Indem die Neue Rechte nun vor allem die Wiedererlangung einer nationalen Souveränität in den Blick nimmt, projiziert auch sie letztendlich naturale Nähe auf einen größeren Kontext: Sie versucht, „die Nation“ auf einen symbiotischen Grund „natürlicher“ Verbundenheit und Gemeinsamkeit zurückzuführen“ (Göbel & Pankoke 1998, S. 465). Die Vertreter des neurechten Milieus „schwören dabei bewußt naturalistische, ja biokratische Köhasionsmuster wie ,Rasse‘, ,Volksgemeinschaft‘ – symbiotisch manipulierbar über ,Blut und Boden‘“ (ebd.). In Zeiten der Krise, in denen die Mittelschicht vor einem Abstieg sich fürchtet und die Unterschicht an einen Aufstieg kaum noch zu glauben imstande ist, bildet eine solche „Solidaritäts-Grenze“ einen Anknüpfungspunkt. Die Hinwendung zu rechten Weltanschauungen, die Solidarität als „Fürsorge für den räumlich oder kulturell, religiös oder ethischen Nächsten“ (Kaiser 2016, S. 31) fassen, erscheint dann tatsächlich als „eine Art politische Notwehr der unteren Schichten“ (Eribon 2016, S. 124).

 

Verzerrter Klassenkampf

Erst im Dezember 2017 hat ein Team um Thomas Piketty festgestellt, dass sich die Ungleichheit weltweit dem Stand des frühen 20. Jahrhunderts nähert – also wächst.[iv] „Innerhalb der westlichen Welt hat die Ungleichheit zugenommen, weil hier die Einkommen der unteren Mittelklasse stagnieren oder bestenfalls minimal stiegen.“ (Nachtwey 2017, S. 226) Diese tatsächlichen Verlierer der Modernisierung sehen sich dank diverser Krisen vom Abstieg bedroht. Dieser Machtverlust führt dabei nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen zu einem erbitterten Widerstand und ein Verlangen nach Restauration der alten Ordnung. Deshalb bezeichnet Dörre den „reaktiven Nationalismus“ auch als „konservativ“ (Dörre 2003, S. 113). Hat das Individuum den Eindruck, die Welt um ihn herum breche zusammen, entwickelt sich zumindest latenter Widerstand. Diese „Bedrohung der normativen Ordnung, [löst] bei der betreffenden Person das Gefühl [aus], die gesamte moralische Ordnung sei in Gefahr und das vorgestellte ,Wir‘ zerfalle. Nicht die konkrete Situation, sondern die Angst vor einem Zusammenbruch der moralischen Ordnung veranlasst die Person, sich gegen Ausländer und jeglichen Anderen zu wenden, die sie als Bedrohung empfindet.“ (Krastev 2017, S. 127)

Mit dem drohenden Zusammenbruch der bestehenden Ordnung geht nun jedoch einher, dass den Betroffenen quasi jedes Mittel Recht ist, um diese zu verteidigen. „Daher kämpfen Machteliten, herrschende Klassen oder Nationen im Namen ihrer überlegenen Werte, ihrer überlegenen Zivilisation oft mit Methoden, die den Werten, für die sie einzutreten behaupten diametral entgegengesetzt sind.“ (Elias 1992, S. 464) Muslimen wird dann etwa generell mit Intoleranz begegnet, weil der Islam als intolerant dargestellt wird. Demokratische Grundrechte werden unter dem Deckmantel der wahren Demokratie für das Volk infrage gestellt. „Mit dem Rücken zur Wand werden die Verfechter leicht zu den größten Zerstörern der Zivilisation. Sie werden leicht zu Barbaren.“ (ebd.)

Warum AfD-WählerInnen ein signifikant pessimistischer geprägtes Weltbild haben, erklärt sich genau hier. Sie gehören zu jenen ehemals herrschenden Klassen, die aufgrund sozio-ökonomischer Prozesse mit einem Abstieg konfrontiert sind. Dabei ist es nicht vonnöten, dass sie tatsächlich betroffen sind – sie müssen dies nur so wahrnehmen. Eine Gutverdienerin aus einer strukturschwachen Gegend kann also genauso betroffen sein, wie ein Geringverdiener aus einer stärkeren Region. Zentral ist, dass es noch etwas zu verteidigen gibt – seien Privilegien wie z.B. Eigentum und Status oder auch nur der Arbeitsplatz. Systeme der sozialen Integration sind heute zu „Ressourcen der Desintegration“ (Nachtwey 2017, S. 223) geworden: Das Rechtssystem schützt zwar Minderheiten, fragmentiert aber die Rechte von z.B. Leiharbeitern; der Arbeitsmarkt hat aufgrund der Vielzahl atypischer Jobs kaum noch emanzipative Kraft. Es ist daher nicht verwunderlich, dass oft das Berufsfeld als Indikator für die Einschätzung der eigenen Lage herangezogen wird. Doch Macht ist polyvalent. Sie speist sich nicht nur aus der Erwerbstätigkeit, sondern ebenso aus der Zugehörigkeit verschiedener Gruppen. Dann nämlich wird auch deutlich, warum es eine „Geographie des Ressentiments“ (Mounk 2018) gibt. Die Macht zum Beispiel weißer Eliten erscheint den Betroffenen dann nämlich dort besonders bedroht, wo sie bisher unangetastet war. Eine kleine Zahl an Geflüchteten bedeutet hier eine andere Veränderung der Machtbalance als eine größere Zahl in einer ohnehin diversen Metropole. Macht muss demnach als etwas begriffen werden, dass neben einer ökonomischen Facette ebenso eine kulturelle, soziale und symbolische hat. Nur so kann ein Machtverlust durch „multiple Krisen“ in seiner Mannigfaltigkeit erfasst werden.

Die Bedrohung der Lebenswelt der Menschen durch die regressiven Tendenzen im Neoliberalismus führen also zu den Kontrollproblemen, die die Wahl der AfD massiv begünstigen. Diese greift letztendlich diese Probleme auf, verknüpft sie jedoch mit nicht-ökonomischen Deutungen und liefert so eine Lösung für ein drängendes Problem: „Da bei Kontrollverlusten das elementare Bedürfnis nach Sicherheit und Kontrolle über das eigene Leben verletzt wird, werden Betroffene versuchen, Wahrnehmungsmuster auszubilden, die das Gefühl vermitteln, Kontrolle und Gewissheit zurückzugewinnen. Dies kann zum Beispiel die Adaption von Verschwörungstheorien begünstigen.“ (Mansel & Spaiser 2010, S. 53) Diese Wahrnehmungsmuster nun führen zu einer Verschleierung ökonomischer Ursachen des Kontrollverlustes und fördern die Übernahme kulturalistischer und populistischer Argumentationen. Der Grund hierfür liegt einerseits im uneingelösten Versprechen, dass z.B. Deutschland noch immer eine Aufstiegsgesellschaft sei. „Die liberalen Kritiker des neuen Populismus erkennen nicht, dass der Volkszorn kein Zeichen der Primitivität der einfachen Leute ist, sondern ein Indiz für die Schwäche der hegemonialen liberalen Ideologie selbst, die es nicht mehr schafft, ,Konsens zu fabrizieren‘, so dass man Zuflucht zu einer ,primitiveren‘ Funktionsweise von Ideologie nehmen muss.“ (Žižek 2017, S. 302) Andererseits aber sorgt der Neoliberalismus selbst dafür, dass die Menschen die ökonomischen und sozialpolitischen Dimensionen nicht erkennen. „Der Grund hierfür liegt in einer neoliberalen Entpolitisierung und Dethematisierung des Ökonomischen.“ (Spoo 2017, S. 72) Drei Aspekte spielen hier eine Rolle:

  • Ökonomische Individualisierung: Immer mehr atypische Beschäftigungsverhältnisse sorgen dafür, dass ArbeiterInnen auf sich gestellt sind, weil alte Instanzen der Solidarität (etwa Gewerkschaften) nicht mehr funktionieren. Hinzukommt die Subjektivierung der Arbeit, d.h. die Auflösung der Grenze zwischen Leben und Arbeit. Das Arbeitsverhältnis dringt tief in das Private ein und etabliert sich als ein individuelles Verhältnis.

 

  • Entpolitisierung und Dethematisierung: Dementsprechend wird immer mehr Verantwortung auf das Individuum übertragen. Durch die „Responsibilisierung“ aber werden Individuen für ihr ökonomisches Schicksal selbst verantwortlich gemacht, obwohl sie zu großen Teil (wie oben angedeutet) keinerlei Einfluss auf dessen Entwicklung haben. Versagen ist immer die Schuld des Einzelnen, nicht der Umstände, in denen sich dieser befindet.

 

  • Ideologische Moralisierung des Ökonomischen: Daher gelten „arm und reich“ auch nicht mehr nur als rein ökonomische Kategorien, sondern als moralische. Wer abgehängt wurde, hat dies selbst verschuldet und kann moralisch verurteilt werden. Gleichsam verschwindet die ursprünglich ökonomische Dimension aus dem Blickfeld.

 

„Individualisierung, Responsibilisierung und Moralisierung verhindern, dass die Gefühle der Vereinzelung und der Verlassenheit, der Verunsicherung und Überforderung, der Entmutigung und des Ungenügens, kurzum: der Entfremdung, auf ihre ökonomischen Bedingungen bezogen werden. Vielmehr verstärken die genannten Aspekte diese Gefühle sogar noch und legen es nahe, sie auf nicht-ökonomische Ursachen zu beziehen.“ (ebd., S. 74) Aus einer soziologischen Perspektive kann festgestellt werden, „dass die rechtspopulistische Wut eine verzerrte Form des Klassenkampfes darstellt“ (Žižek 2017, S. 302). Sodass „sich das rechtsradikale Angebot als eine Ausweich- und Ersatzdeutung verstehen, die den ökonomisch erzeugten, aber ökonomisch und politisch nicht mehr artikulierten Frust auf andere Diskurs- und Themenfelder umlenkt.“ (Spoo 2017, S. 74) Innerhalb dieser anderen Themenfelder muss jedoch durchaus festgestellt werden, „dass es den Anhängern des Rechtspopulismus gelungen ist, aus ihrem Scheitern eine gesellschaftliche Angelegenheit zu machen.“ (Koppetsch 2017, S. 219) Schließlich ist es ja das ganze Volk, sind es alle Deutschen, die von der Elite verraten werden. Das individuelle Scheitern, das zur Legitimation der neoliberalen Gesellschaftsordnung dient, weicht hier dem Narrativ eines allgemeinen Niedergangs. Das Problem aber bleibt: Die Ursachen hierfür werden in kulturell-ethnischen Argumenten gesucht und nicht in einer Ökonomie der Macht, die zwar kulturelle Aspekte berührt, darin jedoch sich nicht erschöpft.

 

Bedrohte Mehrheiten

Die multiple Krise, die einen Souveränitätsabbau auf nationaler und auf der Ebene der individuellen Lebensführung zeitigt, verbindet also zwei Komplexe, denen sich der Rechtspopulismus zuwendet. Es ist dementsprechend verfehlt, ausschließlich von einer Instrumentalisierung der „Sorgen der BürgerInnen“ zu sprechen. „Der aktuelle Rechtsextremismus ,beschwindelt‘ die Menschen nicht einfach, sondern greift subjektive Erfahrungen mit gesellschaftlichen Umbrüchen auf, bietet ein Modell für ihr Verständnis und ihre Veränderung und muss dabei nicht mit den eigenen Grundlagen – völkischer Nationalismus, Rassismus und Ungleichheitsideologien (…) – brechen.“ (Kaindl 1996, S. 65f.) Diese subjektiven Erfahrungen sind zusehends gekennzeichnet von Überforderung. „Für viele Bürger ist die soziale Welt immer weniger durchschaubar.“ (Nachtwey 2016, S. 218) Das konservative Weltbild, in dem das Konkrete eine wichtige Rolle spielt, bietet sich nun eher als komplexitätsreduzierend an als das universalistische. Eine Welt „ohne Grenzen“ („No borders! No nations!“) ist ohne Frage wesentlich abstrakter als das konventionelle Modell des Nationalstaats. Der Dualismus eines Freund-Feind-Denkens ist im Zweifel zugänglicher als realpolitisches Taktieren mit stetig changierenden Handels- oder Bündnispartnern (siehe Iran, China, Russland).

Gleichzeitig haben die Entwicklungen des politischen Systems der liberalen Demokratie dazu geführt, dass die Mitbestimmung der BürgerInnen real eingeschränkt wird. „Das Paradoxon der liberalen Demokratie besteht darin, dass die Bürger freier sind, sich aber machtloser fühlen.“ (Krastev 2017, S. 132) Dies liegt daran, dass selbst bei einem Wahlsieg der eigenen Partei nur begrenzt Maßnahmen umgesetzt werden können, weil Gesetze Handlungsmöglichkeiten, etwa durch den Minderheitenschutz oder das Grundgesetz, einschränken. Wenn also Kontrollprobleme auf der Ebene politischer Selbstwirksamkeit wahrgenommen werden, dann auch weil ein „Sieg“ in der Demokratie nie ein vollständiger sein kann: „Die kaum bemerkte Kehrseite für die Wahlgewinner liegt darin, dass die liberale Demokratie keine Chance auf einen vollständigen oder endgültigen Sieg bietet.“ (ebd.) Der Rechtspopulismus bricht nun mit dieser Regel: „Es ist das Versprechen eines unzweideutigen Sieges, das den Reiz populistischer Parteien ausmacht.“ (ebd.) So besteht der eigentliche Reiz der liberalen Demokratie darin, auch als VerliererIn nicht befürchten zu müssen, allzu viel zu verlieren. Wer eine Wahl verliert, brauche nicht ins Exil zu fliehen oder in den Untergrund zu gehen. Parteien wie die AfD aber suggerieren, dass bei ihrer Machtübernahme alles anders, besser würde. Trump drohte damit, Hillary Clinton im Falle seines Sieges „hinter Gitter“ zu bringen. Die AfD versucht zumindest, Merkel zu kriminalisieren, indem man sie immer wieder als „Eidbrecherin“ diffamiert.

Die „totale Übernahme“ lässt sich aber nur mit der Abschaffung der Gewaltenteilung und der Übernahme unabhängiger Institutionen wie Medien, Gerichten oder Banken erreichen – zu beobachten ist dies derzeit in Polen, der Türkei, Russland oder auch Ungarn. Gleichzeitig erklären sich hieraus durchaus die Zustimmungswerte für autoritäre Regierungsformen und die sinkende Wertschätzung für das demokratische System an sich (vgl. Foa & Mounk 2016). Die immer größer werdende Zahl an Menschen, die durch die globalen Entwicklungen vor Kontrollprobleme gestellt werden, verliert das Vertrauen in das demokratische System, weil sie den Eindruck haben, dass nicht wirklich etwas an ihrer Situation verändert werden kann. Der Rechtspopulismus suggeriert genau hier eine Lösung und verkörpert etwas, das als „Populismus der bedrohten Mehrheiten“ bezeichnet werden kann (Krastev 2017, S. 126). Hierin verändert sich die Rolle der Demokratie, die ursprünglich zur Emanzipation der Minderheiten beitragen sollte. Der Populismus der bedrohten Mehrheiten etabliert „Demokratie als ein politisches Regime, das die Macht der Mehrheiten sichert“ (ebd., S. 123), und bricht damit de facto mit den Grundsätzen der liberalen Demokratie. Dabei aber setzt er im Falle der AfD nicht auf eine Krisenanalyse, die die ökonomischen Tatsachen als das benennt, was sie sind – nämlich die Ursachen für die Kontrollprobleme und den Souveränitätsverlust der Menschen. Er bedient ethnisierte und rassifizierte Narrationen, die dazu beitragen, dass die Menschen davon ausgehen, mit der Abgrenzung vom Anderen ihren Status sichern zu können.

Die Identitätsangebote aber bleiben dabei nur Behelf. Weder geht es den meisten wirklich darum, sich als DeutscheR fühlen zu können, noch geht es darum, anderen, also MigrantInnen oder Muslimae, um jeden Preis ihre Grundrechte abzusprechen. Auch, wenn vor allem ersteres ein weit verbreitetes Bedürfnis sein mag. Die Ausbildung von Ressentiments und die daraus resultierende Sympathie und/oder Wahlentscheidung für die AfD sind die Folge mangelnder Selbstwirksamkeit, die eigentlich nur durch ökonomische Selbstbefähigung (individuell wie strukturell) wiederhergestellt werden kann. Soll also das Problem des Populismus gelöst werden, kann dies nur gelingen, wenn die Menschen wieder befähigt werden, Kontrolle über ihr eigenes Leben zu erlangen. Das Vertrauen in das System haben sie zu Recht verloren. Was ihnen bleibt ist: Das Verlangen nach Kontrolle – denn die ist immer besser.

 

 

Der Autor

Sören Musyal ist Soziologe und Kommunikationswissenschaftler. Er arbeitet zu den Themen Rechtspopulismus, Neue Rechte und regressiven Tendenzen in der Gesellschaft. Er hat in Erfurt, Berlin und New York studiert. Als freier Journalist war er an der Aufdeckung rechter Trollnetzwerke in Deutschland beteiligt. Er schreibt für diverse Print- und Onlinemedien, zuletzt war er an der öffentlich-rechtlichen Dokumention „Lösch Dich! – So organisiert ist der Hass im Netz“ beteiligt. Zuvor war er als wissenschaftlicher Mitarbeiter für Violence Prevention Network tätig.

 

 

Literatur

Appadurai, A. (1996). Sovereignty without Territoriality. In: Patricia Yaeger (Hrsg.). The Geography of Identity. The University of Michigan Press.

Butterwegge, C. (2006). Globalisierung, Neoliberalismus und Rechtsextremismus. In: Peter Bathke & Susanne Spindler (Hrsg.). Neoliberalismus und Rechtsextremismus in Europa. Zusammenhänge – Widersprüche – Gegenstrategien. Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Crouch, C. (2008). Postdemokratie. Suhrkamp.

Demirović, A. (2013). Multiple Krise, autoritäre Demokratie und radikaldemokratische Erneuerung. In: PROKLA., Heft 171, 2/2013:193-215.

Dörre, K. (2003). Rechte Orientierungen in der Arbeitswelt: Marktsteuerung als Ursache für Rechtspopulismus? In: Journal für Konflikt- und Gewaltforschung, 5, 2/2003:103-120.

Elias. N. (1992). Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert. Suhrkamp.

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Foa, R. S. & Mounk, Y. (2016). The Danger of Deconsolidation. In: Journal of Democracy, 3, 27/2016: 5-17.

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Göbel, A. & Pankoke, E. (1998). Grenzen der Solidarität. Solidaritätsformeln und Solidaritätsformen im Wandel. In: Kurt Bayertz (Hrsg.). Solidarität. Begriff und Problem. Suhrkamp.

Kaindl, C. (1996). Antikapitalismus und Globalisierungskritik von rechts – Erfolgskonzepte für die extreme Rechte? In: Peter Bathke & Susanne Spindler (Hrsg.) Neoliberalismus und Rechtsextremismus in Europa. Zusammenhänge – Widersprüche – Gegenstrategien. Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Kaiser, B. (2016). Abstiegsangst und Aufbegehren im Krisenkapitalismus In: Sezession. 2016/6:31-34.

Koppetsch, C. (2017). Rechtspopulismus, Etablierte und Außenseiter. Emotionale Dynamiken sozialer Deklassierung. In: D. Jörke & O. Nachtwey (Hrsg.). Das Volk gegen die (liberale) Demokratie. Leviathan Sonderband 32/2017, S. 208-232.

Krastev, I. (2017). Auf dem Weg in die Mehrheitsdiktatur? In: H. Gieselberger (Hrsg.). Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Suhrkamp.

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Merton, R. K. (1995). Soziologische Theorie und soziale Struktur. De Gruyter.

Mannheim, K. (1984). Konservatismus. Ein Beitrag zur Soziologie des Wissens. Suhrkamp.

Mansel, J. & Spaiser, V. (2010). Ängste und Kontrollverluste. Zusammenhänge mit Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. In: W. Heitmeyer (Hrsg.). Deutsche Zustände. Folge 8. Suhrkamp.

Mounk, Y. (2018). Der Zerfall der Demokratie. Wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. Droemer Knaur.

Musyal, S. (2016). Carl Schmitt‘s Political Theory and Dostoevsky‘s Grand Inquisitor: https://app.box.com/s/g3wisowwuvimf177fue59t29g6wq7ctf

Nachtwey, O. (2016). Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Suhrkamp.

Nachtwey, O. (2017). Entzivilisierung. Über regressive Tendenzen in westlichen Gesellschaften. In: H. Gieselberger (Hrsg.). Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Suhrkamp.

Schelsky, H. (1975). Macht durch Sprache. In: Gerd-Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.). Sprache und Herrschaft. Die umfunktionierten Wörter. Herder.

Schmitt, C. (1932 [1991]). Der Begriff  des Politischen. Duncker & Humblot.

Spoo, G. (2017). Wie weiter gegen Rechts? Der Erfolg der AfD und die Strategien der Linken. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. 2017/12:67-76.

Stegemann, B. (2017). Gespenst des Populismus. Ein Essay zur politischen Dramaturgie. Theater der Zeit.

Streeck, W. (2017). Die Wiederkehr der Verdrängten als Anfang vom Ende des neoliberalen Kapitalismus. In: H. Gieselberger (Hrsg.). Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Suhrkamp.

Vogl, J. (2015). Der Souveränitätseffekt. diaphanes.

Žižek, S. (2017). Die populistische Versuchung. In: H. Gieselberger (Hrsg.). Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Suhrkamp.

 

Endnoten

[i] Sehnsucht nach Heimat: http://www.spiegel.de/spiegel/sigmargabrielwiediespdaufdenrechtspopulismusreagierenmussa1183867.html [abgerufen am 20.12.2017]

[ii] Neoliberalismus wird hier verstanden als das ökonomisch und kulturell hegemoniale System. Dem Vorwurf, dass es sich hier um einen „Kampfbegriff“ handle, lässt sich leicht zuvor kommen:  Im Sommer 2016 veröffentlichte der Internationale Währungsfond (IWF) ein Paper, in dem er die Zweckdienlichkeit des Neoliberalismus infrage stellt: http://www.imf.org/external/pubs/ft/fandd/2016/06/ostry.htm [abgerufen am 26.12.2017]

[iii] „Eine Recherche in DIE ZEIT Nr. 40/2016 hat die trickreichen Kämpfe der wohlhabenden Hamburger Stadtteile gegen Flüchtlingsheime dokumentiert. Das Resultat ist einfach: Wer Eigentum besitzt, ist durch die Gesetze vor Flüchtenden in seiner Nähe geschützt. Und von diesem Recht wird gerade von den Milieus Gebrauch gemacht, die am lautesten Willkommenskultur propagandieren.“ (Stegemann 2017, S. 176)

[iv] Bericht zur weltweiten Ungleichheit 2018: http://wir2018.wid.world/files/download/wir2018-summary-german.pdf [abgerufen am 30.12.2017]