Interview über Corona-Verschwörungen mit Islamwissenschaftler Martin Zabel
Corona-Verschwörungen sind weit verbreitet. Doch welche gibt es unter Muslimen und auch über Muslime? Wo kommen sie her? Können Verschwörungsnarrative gefährlich sein? Und wie wappnet man sich gegen sie? Darüber sprach Islam-ist mit dem Arabisten und Islamwissenschaftler Martin Zabel, der sich seit Jahren mit Verschwörungsnarrativen auseinandersetzt.
Islam-ist: Welche Verschwörungstheorien sind derzeit besonders verbreitet?
Martin Zabel: Gerade in Zeiten von Corona gibt es relativ viele „neue“ Verschwörungstheorien. Es gab relativ am Anfang der Ausbreitung der Pandemie in Deutschland, Anfang März, als die Fallzahlen von Covid-19-Infizierten deutlich stiegen, ein Video, das sich rasant verbreitete. Eine Frau zeigte in die Kamera ihres Telefons ein Handdesinfektionsmitteln. Auf dem Desinfektionsmittel stand drauf, gegen was es helfen soll: Diese und jene Viren, Noroviren, und so weiter. Außerdem stand dort: Corona.
Islam-ist: Es gibt ja mehrere Coronaviren, nicht nur das neuartige, das uns derzeit beschäftigt…
Martin Zabel: Genau. Aber für Menschen, die das dann sehen, die überhaupt noch gar nicht wirklich wissen, was Corona überhaupt ist, denken sich erst einmal: „Boah, krass!“ Warum steht auf einem Desinfektionsmittel, das laut Angabe 2016 hergestellt wurde, Corona?
Islam-ist: Und so wird eine Verschwörung daraus?
Martin Zabel: Nicht unbedingt. Viele packen die Information erst einmal ad acta. Dann ist es vorbei. Aber andere nicht. Und das kann die Initialzündung sein; wenn man dann erst anfängt, weiter zu suchen, kommt man zu einem fast schon geschlossenen Weltbild, in das man eigentlich nur noch einsteigen muss, sofern man möchte. Denn je mehr man zu den Verschwörungen liest, desto verrückter wird es. Auf einmal glaubt man etwa daran, dass Corona von einem Asteroiden aus dem Weltall gebracht wurde.
Islam-ist: Davon haben wir noch nie gehört.
Martin Zabel: Der Asteroid soll laut Verschwörung im Oktober 2019 in China eingeschlagen sein, angeblich zum ersten Mal.
Corona-Verschwörungen über Bill Gates
Islam-ist: Es gibt auch Theorien, der Microsoft-Gründer Bill Gates habe mit dem Virus zu tun.
Martin Zabel: Ja. Es gibt Verschwörungstheoretiker, die sagen, Bill Gates habe ein großes Interesse am Coronavirus. Er habe schon lange davon gewusst. Gates hielt 2015 einen Vortrag vor Publikum, ein sogenannter „TED Talk“. Dazu muss man wissen: Gates engagiert sich schon seit längerem in der Forschung rund um das Thema Impfungen und Virologie. Er ist der zweitreichste Mensch der Welt, und er gibt halt unglaublich viel Geld für unterschiedliche Dinge aus. Also, er hielt 2015 diesen Vortrag, in dem er vor einer Pandemie warnte, die innerhalb der nächsten zehn Jahre kommen wird, und er sagte, dass ungefähr 30 Millionen Menschen sterben könnten. Das ist jetzt natürlich gefundenes Fressen: So ein unglaublich einflussreicher Mensch, der vermutlich in der „Schattenregierung“ sitzt, die die Welt beherrscht, wie es so schön heißt, hat es angedeutet. Das ist ein Narrativ, das häufig auch zutiefst antisemitisch ist: diese Weltregierung, diese Weltherrschaft von einer kleinen Gruppe reicher Menschen, die im Grunde genommen jetzt dafür zuständig gewesen, das Coronavirus zu entwickeln.
Islam-ist: Was sollen diese Menschen denn laut den Theorien davon haben?
Martin Zabel: Die Theorie wird erst weitergesponnen. Zum einen geht es dann um Machterhalt. Und zum anderen um noch viel mehr Geld, da Gates die Impfstoffe, die es braucht, angeblich schon lange parat habe und er sie nun bald verkaufen könne. Allerdings erst, wenn noch mehr Menschen infiziert sind. Es geht sogar noch weiter: Auch dass weniger Menschen auf der Welt wiederum besser für die Wirtschaft seien et cetera. Es spinnt sich dann immer so weiter.
Das Virus als Strafe für die Internierung der Uiguren?
Islam-ist: Eine Theorie, die sich besonders unter Muslimen verbreitete, hat mit den Uiguren zu tun. Was hat es damit auf sich?
Martin Zabel: Wir wissen, dass es in China Internierungslager für die muslimische Minderheit der Uiguren gibt. Laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International sind 90 bis 95 Prozent der Menschen, die in diesen Lagern – oder Umerziehungslager, wie die kommunistische Regierung in China sagt – in der Provinz Xinjang leben, Muslime sind, egal ob religiös oder kulturell. Bei Ausbruch des Virus wurde dann relativ schnell die Theorie verbreitet, dass dies jetzt quasi die Strafe Gottes für den Umgang der Regierung mit diesen Menschen sei. Genau dieses Narrativ hält sich nach wie vor. Aber es hat sich enorm abgeschwächt, weil man nun mittlerweile sieht, dass dieses Virus schon lange nicht mehr nur auf China begrenzt ist, sondern sich global ausgedehnt hat. Über 200 Länder weltweit.
Islam-ist: Die Verschwörungstheorie mit China konnte man sehr stark in den sozialen Medien beobachten. In Indien werden wiederum Muslim*innen verantwortlich gemacht.
Martin Zabel: Ja, in den vergangen Monaten gab es in Indien häufig Ausschreitungen zwischen Hindus und Muslime, und bei den Ausschreitungen war es meistens so, dass Menschen, die einen nicht-muslimischen Hintergrund haben, Moscheen angezündet haben. Vermutlich waren es größtenteils Hindu-Nationalisten. In einigen Gebieten Indiens gab es tatsächlich bürgerkriegsähnliche Szenarien, wo Menschen getötet wurden und nicht nur Moscheen, sondern auch muslimische Läden zerstört wurden. Unter der Regierung der indischen Premiers Modi ist das Verhältnis zwischen den Bevölkerungsgruppen angespannter geworden.
In den Sozialen Netzwerken konnte man nun auch das hindu-nationalistische Verschwörungsnarrativ verfolgen, dass muslimischen Agenten, die Pakistanis, je nachdem, das Virus nach Indien bringen. Es ist ähnlich wie hier, wenn extreme Rechte und Rechtspopulisten behaupten: „Die ganzen Ausländer bringen die Krankheiten hierher.“ Aber in Indien findet das nochmal auf einer anderen Ebene statt, weil die Muslim*innen dort größtenteils schon immer in Indien wohnen. Von „Fremden“ kann also wahrlich nicht die Rede sein – außer man argumentiert, wie es viele Verschwörungstheoretiker*innen eben auch tun, islamfeindlich. Antimuslimische Rassismus spielt da eine wichtige Rolle.
Islam-ist: Es gibt also immer ein vermeintlich Gutes und ein vermeintlich Böses?
„Wenn etwas ohne Quellen geschickt wird, sollte man misstrauisch sein“
Martin Zabel: Ja, aber das ist so die Quintessenz von vielen Verschwörungstheorien. Es geht immer darum, auch irgendeine Gruppe zu dämonisieren.
Islam-ist: Wie können wir mit Verschwörungstheorien umgehen? Was würdest du vor allem jungen Menschen raten, wenn sie mit Verschwörungstheorien in Berührung kommen?
Martin Zabel: Es ist wichtig, dass man Dinge hinterfragt. Als ich jetzt viele Corona-Verschwörungen gelesen haben, dachte ich mir auch erst: Warum diese Fragen? Aber das ist, glaube ich, das Wichtige: Dass man sich selbst ein bisschen damit auseinandersetzt.
Islam-ist: Wie macht man das am besten konkret?
Martin Zabel: Man kann schon mal tendenziell sagen, wenn etwas ohne Quellenangaben und so weiter einfach per WhatsApp rumgeschickt wird, und da werden höchst komplexe Zusammenhänge innerhalb von 15 Sekunden erklärt, sollte man misstrauisch sein. Meist steckt nicht viel dahinter.
Bei vielen islamistischen Akteuren ist es nicht anderes, gerade auch bei den sympathisierenden: Die haben meist keine Ahnung von der Religion, die haben überhaupt keinen Schimmer von dem, was in der Theologie eigentlich gesagt wird, was über Jahrhunderte so erzählt und welche Schriften veröffentlicht wurden. Da kommen ein paar Leute, die gucken sich das an und denken sich: Ja, ich habe jetzt zwei Bücher gelesen und ich bin jetzt Experte und kann deswegen sagen: „Hey, ich ziehe in den Dschihad, weil das ist das Einzige, was ich noch tun muss, um zum perfekten Muslim zu werden.“ Wir können zwar selbst nicht über alles Informationen haben, aber ich würde jeden und jede animieren, selbst zu schauen und zu reflektieren.
Erschienen auf Islam-ist.de. Dort finden Sie weitere interesante Interviews zu Themen rund um den Islam.