Spotlight 1/n: Incels – Von sexueller Frustration zu Terrorismus

Von Sören Musyal, Associate Fellow, modus | zad

Dieser Text wurde zuerst veröffentlich als Spotlight auf modus | zad am 27. Mai 2021.

Das erste Attentat eines Extremisten, das explizit mit „Incels“ in Verbindung gebracht wird, geschieht im Mai 2014 im kalifornischen Isla Vista: Der 22-jährige Elliot Rodger tötet sechs Menschen und verletzt 14 weitere.

Sein Motiv: Hass auf Frauen, weil diese ihm Geschlechtsverkehr vorenthalten. Sein Ziel: einen Krieg gegen Frauen anzufachen, der letztlich zu einer neuen Geschlechterordnung führt, in der Frauen Männern untergeordnet sind und ihm ohne Rechte zur Verfügung stehen. Seit dem 23. Mai 2014 ist – je nach Zählweise – mindestens ein Dutzend weiterer Attentate verübt worden, die auf ähnliche Motive zurückgeführt werden können. Es kommen weitere hinzu, in denen Frauenhass (und Antifeminismus) eine wichtige Rolle im Weltbild der Täter spielten.

Es erscheint also nachvollziehbar, dass in diesem Zusammenhang inzwischen von „antifeministischem Terrorismus“ gesprochen wird (Sanders et al. 2019). Damit wird auch in der deutschsprachigen Forschung das terroristische Potential frauenfeindlicher Bewegungen und Gruppierungen anerkannt und problematisiert. In nordamerikanischen Ländern wird diese Gefahr bereits von behördlicher Seite benannt. So wird ein Anschlag in Toronto, Kanada, vom 24. Februar 2020 von der Polizei als „terrorist activity“ bezeichnet, etwas allgemeiner spricht der kanadische Inlandsgeheimdienst von „gender-driven violence“ (CSIS 2020, S. 13) – von Terrorismus also, bei dem der Hass auf andere Geschlechter die ausschlaggebende Rolle spielt. In den USA hat das Department for Homeland Security 250.000 Dollar in die Erforschung der Incelkultur investiert, um ihr terroristisches Potential zu eruieren.1 In Deutschland jedoch blieb diese Subkultur lange weitgehend unbehandelt. Erst im Herbst 2020 legte Veronika Kracher die erste umfassende Publikation vor, die sich ausschließlich mit Geschichte, Sprache und Ideologie der Incels beschäftigt (vgl. 2020). Susanne Kaiser hat mit „Politische Männlichkeit“ ein Buch veröffentlicht, das Inceldom als Teil eines globalen männlichen Abwehrkampfes für das Patriarchat behandelt (vgl. 2020). Darüber hinaus bleibt die Auseinandersetzung mit dem Thema bisher Expert*innen und Journalist*innen überlassen, die vor allem anlässlich in Deutschland verübter rechtsextremer Anschläge zum Thema befragt werden. Oft geht es dabei dementsprechend um die Bedeutung von Frauenfeindlichkeit für rechtsextreme Ideologien, selten aber um die genuine Incelkultur und das ihr innewohnende Gewaltpotential. Auf diese Weise droht aus dem Blick zu geraten, dass es keiner Verbindung zwischen z. B. Rechtsextremismus und Frauenhass bedarf, damit aus diesem Personenspektrum terroristische Gewalt hervorgeht.

Dabei sollte Beachtung finden, dass das Weltbild der Incelkultur und der damit verbundene Radikalisierungsprozess entscheidende Faktoren beinhalten, die zu terroristscher Gewalt führen können – ohne weitere ideologische Anreicherung durch extremistische Bewegungen. Selbstverständlich heißt das nicht, dass nicht insbesondere Rechtsextreme frauenfeindliche Onlinekulturen umwerben und diese als eines ihrer wichtigsten Rekrutierungsfelder sehen (vgl. Stegemann & Musyal 2020, S. 25ff.). Es wäre falsch, diese Verbindungen zu verkennen. Indem aber die Incelkultur zunächst als eigenständig begriffen wird, lassen sich Schlüsse ziehen, die für die Prävention und Deradikalisierung von großer Bedeutung sein können. Es wird sich dann nämlich zeigen, dass Incels ein extremistisches Spektrum darstellen, deren Weltbild erstens Besonderheiten des Radikalisierungsprozesses vermuten lässt. Zweitens resultiert aus der Art des Weltbildes erst die enorme Anschlussfähigkeit an verschiedene politische und extremistische Ideologien. Und drittens kann aufgezeigt werden, inwiefern Incels ein Phänomen der modernen und damit auch digitalisierten Gesellschaft darstellen. Alle drei dieser Punkte verweisen gleichsam auf Bereiche, in denen die Erforschung der Szene dringend ausgeweitet und intensiviert werden muss – insbesondere für den deutschsprachigen Raum.

DAS WELTBILD DER INCELS: DE-DEMÜTIGUNG ALS ANTRIEB

Am 23. April 2018 mietet Alek Minassian einen Van, um mit ihm durch eine der belebtesten Straße Torontos zu fahren und möglichst viele Menschen zu töten. Sein Motiv: Frustration über Frauen, die ihm den Geschlechtsverkehr vorenthalten. Sein Ziel: Die „Incel-Rebellion“. Nach der Tat versucht Minassian „suicide by cop“ zu begehen, indem er immer wieder vortäuscht, eine Schusswaffe zu ziehen, um von der Polizei erschossen zu werden. Er wird festgenommen. Es ist die bisher tödlichste Tat, der eindeutig das Incel-Weltbild zugrunde gelegt werden kann (vgl. Hoffmann et al. 2020). Ganz grob basiert das Weltbild der Incels auf der Annahme, die gesellschaftliche Hierarchie sei abhängig vom Abschneiden des Einzelnen
in der „genetischen Lotterie“:

„Incels believe genetic factors influence their physical appearance and/or cognitive and social abilities to the extent that they are unattractive to women. Incels establish their unattractiveness through a range of measurements including their height, weight, bone structure, distances between specific facial features, baldness, wrist size, position on the autism spectrum, and numerous other biologicallydetermined features. The systems of measurement are taken from lookism theories, which draw heavily on eugenics to describe an archetypal man.“ (Moonshot CVE 2020, S. 3).

Incels verorten sich selbst also am unteren Ende der von ihnen erdachten Hierarchie, während oben die von ihnen als „Chad“ und „Stacy“ bezeichneten Männer und Frauen stehen, die den Idealen am ehesten entsprechen. Verfestigt wird diese Hierarchie vor allem von Frauen, weil diese per se bösartig, egoistisch und oberflächlich seien. Sie träfen ihre Dating- und Paarungsentscheidung ausschließlich aufgrund äußerlicher Merkmale. Auf diese Weise enthielten sie Männern, die nicht diesen Idealen entsprechen, den ihnen zustehenden Geschlechtsverkehr vor, obwohl sie selbst intellektuell und charakterlich die besseren Männer/Menschen seien. Incels leben also im unfreiwilligen Zölibat – im namengebenden „involuntary celibacy“. Dass sie zu diesen Einsichten gelangt sind, erhebt sie gleichzeitig über all jene, die die Gesellschaft anders sehen – die Chads, Betas, Normies. Sie haben die so genannte „Blackpill“ genommen und sind so zur bitteren Erkenntnis gelangt, dass die Welt so ist wie sie ist – und sich auch nicht ohne weiteres ändern wird. Das Leben eines Incels lässt sich so zusammenfassen:

„As incels describe it, it is one of chronic existential misery, of total abjection and abasement of relentless torment and neverending trauma. Incels attribute their misery to two twin-evils: sexual frustration and loneliness“. (Cottee 2020, S. 97)

Das Leid, das Incels zu erfahren meinen, sehen sie verursacht von Frauen und von einer Gesellschaft, die es Frauen ermöglicht, sich selbst zu entfalten – unabhängig davon, dass dies in weiten Teilen nach wie vor nicht oder nur begrenzt der Fall ist.2 Ihr ultimatives Ziel ist dementsprechend ein gesellschaftlicher Umbruch, die „Incel-Rebellion“, der zu einer Re-Manifestierung männlicher Vorherrschaft führt – inklusive des freien Zugriffsrechts auf Frauen zur sexuellen Befriedigung ohne Berücksichtgung ihrer Interessen. Oder etwas deutlicher: inklusive legaler bzw. straffreier Vergewaltgung von Frauen.

Auffällig ist, dass das Weltbild und das dieses bestimmende Leid Aspekte des Privaten umfassen, die persönlicher und individueller kaum sein könnten. Zum einen geht es um die eigene Sexualität, die ausschließlich geprägt ist von Frustration. Zum anderen geht es um die eigenen vermeintlichen genetischen Dispositionen, die zu einem Leben am unteren Ende der gesellschaftlichen Hierarchie verdammen. Das Incel-Weltbild besteht also notwendigerweise vor allem aus dem Gefühl, missachtet und gedemütigt zu werden. Aufgehoben wird diese Erfahrung auch nicht durch die vermeintlich „erhebende“ Blackpill. Vielmehr manifestiert diese die Demütigung als unausweichlich.

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Abb.: Der Entwurf einer Inceldom“-Flagge. Das weiße Zentrum soll den integrierten Teil der Gesellschaft abbilden, z. B. Chads oder Normies. Je dunkler das Spektrum, desto gravierender der Incel-Status. (Quelle)

Dies hat relevante Folgen für die Bereitschaft, Gewalt auszuüben. Mark Juergensmeyer zeigt, dass Terrorismus in verschiedenen extremistischen Organisationen nicht nur – wie gemeinhin verstanden – als eine Taktik der gewaltsamen Einschüchterung verstanden werden darf. So zitiert er den ehemaligen ISIS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi: „Terrorism is to refuse humiliation, subjugation, and subordination“ (2017, S. 230). Gewalt und insbesondere Terrorismus haben demnach ein emanzipierendes Potential, das den Ausübenden ein Gefühl von Macht verleiht. Terroristische Gewalt erscheint so nicht nur als taktisches Element in einem geopolitischen Konflikt, sondern als ein Akt, der die Macht der übergeordneten Organisation manifestiert. Dabei spielt es keine Rolle, dass die einzelnen Taten nur selten tatsächliche politische Erfolge nach sich ziehen. Vielmehr geht es darum, Teil eines übergeordneten Kampfes zu werden. Selbst der Tod kann in diesem Zusammenhang in Kauf genommen werden. Abd al-Aziz ar-Rantsi, politischer Führer der Hamas, führt im Zusammenhang mit Selbstmordattentaten aus: „To die in this way is better than to die daily in frustration und humiliation“ (ebd., S. 231).

In der Welt der Incels spiegelt sich dies einerseits wider in der Lust zum Suizid, andererseits aber in der Hingabe zu einem befreienden Akt der Gewalt, bei dem der eigene Tod mindestens in Kauf genommen, wenn nicht sogar eingeplant wird. In der Community selbst kann es gar zu einer Schmälerung der Verehrung kommen, wenn die Attentäter nicht den Tod finden.

Wie bereits erwähnt, besteht das Weltbild der Incels fast ausschließlich aus der politschen Rahmung individueller Frustration, Demütigung und Selbsthass. Es bietet dabei nicht primär die Möglichkeit, diese grundsätzlich zu beheben, sondern vielmehr das Leid zu maximieren und auf ein Feinbild – Frauen – zu kanalisieren. Die Bereitschaft, einen Anschlag zu begehen und es Vorbildern wie Elliot Rodger oder Alek Minassian gleichzutun, bietet genauso wenig die Aussicht auf politische Veränderung wie ein Selbstmordattentat in Syrien. Vielmehr steht die individuelle De-Demütigung im Vordergrund. „To go ER“ (ER steht für Elliot Rodger) heißt, einen Anschlag zu begehen und diesen in die Tradition und das Weltbild der Incelbewegung zu stellen. Als kommunikativer Akt zielt er aber nicht nur auf das „Außen“, die Frauen oder die Gesellschaft also, sondern maßgeblich auf das „Innen“, also die eigene Community. Die Belohnung ist nicht das Erreichen politischer Ziele, sondern das Einziehen in die ewigen Annalen der Incels, die Ernennung zum „Saint“, einem „Heiligen“.

Dies ist umso virulenter, weil Incels mit Sexualität einen Topos ins Zentrum ihres Weltbildes stellen, der nicht nur in allen religiös-extremistischen Bewegungen von zentraler Bedeutung ist, sondern der auch unvermittelte individuelle Demütigung bedeutet. Selbstverständlich führt nicht jede Demütigung, jede Deprivation zu Radikalisierung oder gar Terrorismus. Es kommt darauf an, als wie intim diese erfahren wird (ebd., S. 240). Gerade Incels macht die von ihnen wahrgenommene Demütigung daher anfällig für eine weitere Radikalisierung: „Nothing is more intimate that sexuality and no greater humiliation can be experienced than failure over what one perceives to be one’s sexual role“ (ebd., S. 241). Dass die Ursache für die erfahrene Demütigung primär in den eigenen „schlechten“ Genen liegt und erst sekundär bei den Frauen, die durch ihre Selbstbestimmung entschieden hätten, nicht mehr mit solchen Männern zu verkehren, führt zu einer Selbst-Essenzialisierung, wie sie der sog. Identitätspolitik oft vorgeworfen wird. Es ist daher fast schon ein Treppenwitz, dass viele derjenigen Männer, die sich über angeblich ständig vom Feminismus neu erfundene Geschlechter aufregen, nicht müde werden, sich unerlässlich neue „Typen“ von Männern auszudenken, von denen sie sich am besten beschrieben fühlen: von Alpha über Beta, Gamma,
Omega geht es bis zu Sigma-Männern.

Gleichzeitig führt die Selbst-Essenzialisierung zu einer starken Selbst-Pathologisierung. In einer Umfrage in einem Incel-Forum gaben fast 70 Prozent an, an Depressionen zu leiden, etwas mehr als ein Viertel nahmen an, an Autismus zu leiden (Hoffmann et al. 2020, S. 568). Es versteht sich von selbst, dass erhebliche Zweifel an der Richtigkeit dieser Selbstdiagnosen bestehen müssen. Doch es reicht zu der Erkenntnis, dass unter der Mehrheit der Incels der Glaube vorherrscht, dass mit ihnen selbst etwas nicht stimmt. Dieses Manko ist notwendige Voraussetzung für die legitime Selbstidentifikation als Incel und stellt daher durchaus eine Besonderheit im Radikalisierungsprozess dar.

DIE SCHLANKE IDEOLOGIE UND IHRE ANREICHERUNG

Nicht alle Incels sehen Gewalt als legitim an. Sie ist nur ein mögliches Mittel, um dem eigenen Leid ein Ende zu setzen. Suizid ist ein anderes. Oftmals gehen beide miteinander einher, wie die Fälle Minassian und Rodger zeigen. Es gibt jedoch auch andere Herangehensweisen. So findet sich Mitte April 2021 ein Thread auf incels.is, in dem über die Gründung eines quasi-religiösen Ordens der „Monkcels“ diskutiert wird (Monk, engl. für Mönch).3

Dezidiert wird gleich zu Beginn klargestellt, dass es nicht um den Glauben an etwas Übernatürliches gehen soll. Stattdessen solle man sein Leben der „Blackpill“ widmen: „Monkceldom means dedicating one’s life to the Blackpill.“ Die meisten der restlichen Regeln definieren den potentiellen Orden eher negativ im Verhältnis zu dem, was er nicht sein soll. Er habe nichts mit Faschismus zu tun, da dieser Chads verehre. Marxismus sei der Hauptförderer des Feminismus. Reine Wissenschaft, also das Rationale, das Incels ausmacht, werde ausschließlich von Physik und Chemie verkörpert und nicht von Geisteswissenschaften. Auf die Frage, was der Sinn eines solchen Ordens sei, schreibt der Nutzer:

“1. Improving the lives of monkcel members (getting out of the anger/depression loop) through the clarification of the Black Pill.
2. As a byproduct: clarification of the Black Pill for everyone else.”4

Interessant ist an dieser Idee vieles: Erstens wird hier deutlich, dass Incelaktivitäten ofmals eine Kommunikation nach innen darstellen. Das Aufklären über das eigene Weltbild wird hier als Nebenprodukt bezeichnet. Zweitens aber zeigt sich hier exemplarisch nicht nur eine grundsätzliche Offenheit für andere Organisations- und Denkformen, sondern eine regelrechte Suche nach Möglichkeiten, dem Weltbild der Incels eine Form zu geben. Das Weltbild an sich bietet dabei nicht genug Substanz, um aus sich heraus eine Struktur zu schaffen. Incels sind vergemeinschaftet als „mangelhafte“ Individuen, die als Kollektiv vor allem dadurch zusammengehalten werden, dass ihre Erfahrungen durch dasselbe Feindbild bestimmt sind. Insofern handelt es sich um eine relativ unvermittelte Form der Misogynie. So wie Cas Mudde Populismus als „schlanke Ideologie“ bezeichnet, die beliebig durch andere Ideologien ergänzt werden kann (Mudde 2004, S. 544), ist auch die Ideologie der Incels „schlank“ und relativ beliebig erweiterbar. Deshalb ist dieses Denken ebenso anschlussfähig an Rechtsextremismus wie auch an Islamismus. Es ist aber auch aufnahmefähig für Elemente, die in das eigene Denken integriert werden.

Letzteres führt zu interessanten Parallelen mit Blick auf religiös-extremistische Bewegungen. So sind Monkcels nicht die einzige religiöse Referenz. Mit ihren „Saints“ haben die Incels eine säkulare Form von Heiligkeit geschaffen, die ohne Transzendenz auskommt und doch ähnliche Funktionen erfüllt wie Heilige,
die wir aus Religionen kennen: „The primary social purpose of the saint within a community or religious sect is to identify and signify an ideal set of behaviors, beliefs, and practices.“ (Witt 2020, S. 683)

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Abb.: Eine typische Darstellung Elliot Rodgers als „Saint“. Diese Symbolik wird auch für andere Attentäter wie den rechtsextremen Anders Breivik verwendet. (Quelle)

Sogenannte „Saints“ stellen für Incels genau das dar, insbesondere Elliot Rodger, dem als erster Incel-Attentäter die größte posthume Verehrung zukommt. „Incels create and engage with iconographic of and narratives around ‚Saint Elliot‘ in the same ways that religious communities engage with their saints.“ (ebd.) Das heißt, sie schaffen Memes, die Attentäter als heilige Figuren zeigen, bilden Sprachmuster, wie „going ER“, die sich an den „Saints“ orientieren oder basteln realweltliche Schreine für die von ihnen als Vorbilder Verehrten. Und: Sie richten ihr Handeln nach ihnen aus und beziehen sich direkt auf sie, wenn sie Attentate begehen. Dabei können die eindeutig religiösen Zitate zwar als provokative Ironie verstanden werden, wie sie für solch toxische Onlinekulturen typisch ist, doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass dann – wie so oft – aus dem Scherz insofern Ernst geworden ist, als dass auch die ironisch gemeinte Heiligkeit als solche begriffen wird. Reaktionen auf eine Frau, die sich Rodgers Gesicht auf den Oberarm hat tätowieren lassen, erinnern deshalb in ihrer Heftigkeit nicht umsonst an wütende Fundamentalist*innen, die auf das Verbot von Gottesbildnissen bestehen.5

Im Grunde genommen gibt es nach Meinung der Incels zwei Wege, dem Inceldom zu entkommen: Der erste besteht im Verüben von Gewalt gegen sich und andere in der Hoffnung, zum Heiligen aufzusteigen. Der zweite besteht im Eingehen einer romantischen Beziehung und dem damit verbundenen „Aufstieg“ (eng. ascend) aus den Tiefen der angenommenen sozialen Hierarchie. Letzteres wird vom harten Kern der Szene unter jetzigen gesellschaftlichen Bedingungen als quasi unmöglich erachtet. In dieser Logik bleiben wiederum zwei Wege, damit umzugehen: Einsicht und Resignation oder Widerstand und Wiederermächtigung. Letzteres resultiert in Aggression, Radikalisierung und Gewalt, ob online im Infokrieg oder physisch, wenn auf der Straße Frauen angerempelt, bespuckt und letztendlich auch erschoßen oder erstochen werden.

In der Regel wird Gewalt als Ende (oder zumindest fortgeschrittenes Stadium) eines Radikalisierungsprozesses betrachtet. Im Zusammenhang mit terroristischen Vereinigungen lässt sich jedoch argumentieren, dass die Gewöhnung an und die Verharmlosung von Gewalt eine zentrale Rolle im Radikalisierungsprozess darstellen (vgl. Haggerty & Bucerius 2020). Die Bedeutung der „Saints“ liegt auch hierin, weil sie verdeutlichen, dass angewendete Gewalt gegen den ultimativen Feind nicht nur akzeptabel, sondern wünschenswert und nachahmenswert sei. Hier unterscheiden sich Incels nicht von Kontexten, in denen Selbstmordattentäter als Märtyrer geehrt werden. Beide bieten die Chance auf die Glorifizierung der eigenen Existenz. Damit verbunden ist die Identifikation mit einer weltweit vernetzten Community, in deren Namen und an diese gerichtet, Gewalt verübt wird. Dies gilt gleichermaßen für Anhänger*innen islamistscher Bewegungen wie Hamas, Hisbollah oder den sog. IS wie auch für Incels oder den transnationalen Rechtsextremismus.

Allen diesen gewaltbereiten Kontexten ist darüber hinaus gemein, dass sie den von ihnen geschürten und ausgetragenen Konflikt zu einem Krieg stilisieren. Während diese Kriege im Bereich des religiös begründeten Terrorismus als „cosmic war“ bezeichnet werden können, in denen ein metaphysischer Konflikt zwischen Gut und Böse beschworen wird (vgl. Juergensmeyer 2017; S. 184), und an dessen Ende das persönliche Heil und die politische Erlösung stehen (ebd., S. 185), wird dieser in der Incel-Rebellion säkularisiert. Nicht im Namen eines metaphysischen Oberen, sondern im Namen einer pseudo-rationalistischen, weil angeblich wissenschaftlich belegbaren Wahrheit, kämpfen Incels für ihr Verständnis von Gerechtigkeit. Die Vorstellung eines Krieges schafft einen Rahmen, in dem jegliches Handeln auf die totale Vernichtung des Gegenübers ausgerichtet ist. Er stellt eine relevante Figur im Radikalisierungsprozess dar, weil er die Dämonisierung des Feindes erlaubt, jegliche zur Verfügung stehenden Mittel als legitim erscheinen lässt und die Kombattanten einer Seite zuordnet. „To live in a state of war is to live in a world in which individuals know who they are, why they have suffered, by whose hand the have been humiliated, and at what expense they have persevered.“ (ebd., S. 194) Krieg ist die radikalste Form einer Wir-gegendie-Dichotomie und sie findet sich bei allen terroristischen Vereinigungen: Islamist*innen kämpfen gegen „die Ungläubigen“ und den dekadenten Westen, Rechtsextremist*innen gegen „die Globalisten“ und den dekadenten Westen und Incels gegen Frauen (und den dekadenten Westen, der sie zu selbstbestimmten Personen gemacht hat). In all diesen Fällen ist Krieg zudem ein Szenario, das vor allem junge Männer anzieht, weil es sich mit einem bestimmten Männlichkeitsbild deckt und es den Kämpfern erlaubt, ihre „Männlichkeit“ zu beweisen (vgl. Haggerty & Bucerius 2020, S. 773).

Es ist ein wichtiger Punkt, der Abseits von weltanschaulichen Aspekten zu Übergängen von Incelkultur zu anderen radikalen Bewegungen führen kann. Wie Veronika Kracher ausführt, übe das Kalifat des sog. Islamischen Staates eine immense Faszination auf Incels aus. „In ihren Foren und auf dem Subreddit
Braincells grübelten User, ob das Kalifat die Erfüllung ihrer ‚Incel-Rebellion‘ und der Islamismus die angemessene kriegerische Religion sei, um sich gegen Feminismus, Juden und Gender-Mainstreaming zu verteidigen.“ (Kracher 2020, S. 185) In einem Beitrag in einem Incelforum heißt es dementsprechend: „Ein
echter arabischer muslimischer Incel sollte mindestens etwas Sympathie für den „IS“ haben. Der sog. IS und alle Gruppen, die für die Scharia kämpfen, führen den Kampf der Incel-Rebellion.“ (zit. nach Kracher 2020, ebd.)

Der Grund für diese Faszination liegt auf der Hand: Der sog. IS wird hier als Kraft angesehen, die den Chads und Stacys Einhalt gebieten kann. Dies trifft aber nicht nur auf den sog. Islamischen Staat und die Scharia zu.

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Abb.: Meme aus einem Incel-Forum, in dem ein Mitglied des sog. Islamischen Staates als „Chad“ glorifiziert wird. (Quelle)

Schließlich stellt die in Unordnung geratene sexuelle Ordnung nicht nur für islamistisch motivierte Extremist*innen ein zentrales Motiv dar, sondern auch für eine Reihe anderer radikaler Strömungen – ob Abtreibungsgegner*innen in den USA, Rechtsextreme in Neuseeland oder Deutschland, die über Geburtenraten fabulieren, oder hinduistischen Terroriste*innen. Für sie alle ist Sex ein soziales Problem, das nicht etwa private Dimensionen wie z. B. Lust umfasst, sondern das verbunden ist mit Moral, Rollen und Pflicht. Deutlich zeigte sich dies zuletzt beim Anschlag auf drei asiatische Massagesalons in Atlanta, USA, bei dem ein 21-jähriger acht Menschen, unter ihnen sechs Frauen asiatischer Abstammung tötete, weil er in den Salons Prostitution vermutete. Aus einer evangelikalen Familie stammend, gab der Verdächtige an, gegen die sexuelle Versuchung vorgegangen zu sein, die ihn so oft vom rechten Weg abgebracht habe. Dass bei der Tat die rassistische Sexualisierung asiatischer Frauen eine Rolle gespielt haben könnte, sollte dabei nicht unerwähnt bleiben. Nichtsdestotrotz ist Terror oft verbunden mit Sexualität: „It is anger against sex out of place that is evident in the targets of violence“ (Juergensmeyer 2017, S. 245). Und damit verbunden ist unweigerlich ein bestimmtes Bild von Männlichkeit: „Because men have so frequently held the reigns of public orders as their gendered responsibility in society in the past, they have felt particularly vulnerable when the public world has fallen apart or has seemed beyond control. In this case, they have seen active women and gays as not just a competition, but as symptoms of a world gone awry“ (ebd., S. 247f.).

DIE SCHLANKE IDEOLOGIE UND IHRE ANREICHERUNG

Bei Incels äußert sich diese Wut gegen die außer Kontrolle geratene Sexualität am deutlichsten und auch unmittelbar. Es gibt zunächst keine religiösen oder politischen Werte, aus denen die männliche Vorherrschaft hergeleitet wird, für Incels ist sie Wert an sich. Statt Glaubenssätze zur Rechtfertigung zu bemühen, greifen Incels u. a. auf pseudowissenschaftliche Evolutionstheorien zurück und erscheinen so als Community mit rationalem Weltbild. Nicht nur Elliot Rodger hat diese Rationalität stets vor sich hergetragen, um sich von Frauen und den anderen von ihm verabscheuten Männern zu unterscheiden. Sie ist fester Bestandteil der Incelkultur und der Manosphere insgesamt, in der Frauen stets als irrationaler und emotionaler Gegenpart zum Mann erscheinen.

Auf eindrückliche Weise stellen sich Manosphere und Incels so als Gegenbewegung zur Moderne dar. Sie sind Teil der Reaktion auf die fortschreitende Gleichberechtigung von Frauen und Minderheiten. Nicht umsonst fanden Incel-Attentate bisher in „westlichen“ Ländern statt, wo Männer ihren reellen Machtverlust durch Gewalt und Renitenz zu kompensieren versuchen. Incels unterscheiden sich dabei von der Mehrheitsgesellschaft nur im Grade ihrer Radikalität und Gewaltbereitschaft (vgl. Kaiser 2021b), denn die Einschränkung der körperlichen Selbstbestimmung von Frauen, für die Incels kämpfen, wird in Deutschland, Polen oder den USA nicht nur von Extremist*innen durchgesetzt, sondern ganz legal von staatlicher Seite. Das zeigen Abtreibungsverbote oder – etwas moderater – das Verbot, als Ärztin öffentlich über Abtreibungsangebote informieren zu dürfen.

Universelle Veränderungs- und Krisenprozesse wie die Pandemie, die Klimakrise, die Globalisierung oder schlicht die Abstiegsdynamiken des Kapitalismus, die für die allermeisten Menschen Unsicherheit bedeuten, verstärken dabei auch männliche Statusverlustängste. Männlichkeit ist „politisch“ geworden (vgl. Kaiser 2020) – und das ziemlich erfolgreich, wenn man den Blick auf toxische Männer wie Donald Trump, Jair Bolsonaro oder Björn Höcke richtet. Dass Reaktionäre es für möglich bzw. nötig erachten, Männlichkeit politisch aufzuladen und mit ihr zum „Gegenangriff“ zu mobilisieren, spricht auch für den Erfolg der Gleichberechtigung. Denn verteidigt werden muss nur, was angegriffen wird. Angegriffen werden kann indes nur, was sichtbar geworden ist. Dass es Faschisten wie Björn Höcke gibt, die meinen Männlichkeit müsse wiederentdeckt werden (vgl. Kaiser 2021a, S. 82) und damit Anhänger binden, ist gefährlich. Aber es spricht eben auch für die Wirkmächtigkeit emanzipativer Diskurse, die die omnipräsente Benachteiligung von Frauen sichtbar machen.

Incels sind in ihrem kompromisslosen Frauenhass sowie dem Tolerieren und Anwenden physischer Gewalt in Form von Attentaten die radikale Speerspitze des Reaktionismus. Sie sind dabei auch Ausdruck einer modernen Gesellschaft, weil sie sich moderner Mittel bedienen. Sie betonen Wissenschaft und Rationalität und organisieren sich nach Prinzipien digitaler Vergemeinschaftung. Es gibt keine Anführer, die einen Anschlag anordnen, sondern eine Gemeinschaft, die sich im Ausdruck des Individuellen manifestiert. Wie genau dies den Radikalisierungsprozess verändert, kann noch immer nicht zufriedenstellend beantwortet werden. Auch gibt es bisher kaum Erkenntnisse über die tatsächliche Demographie der Incel-Community oder über Hintergründe individueller Radikalisierung. Dabei liefern insbesondere Foren sowie Social Media Plattformen Anknüpfungspunkte für lohnenswerte Untersuchungen.

Zu fragen wäre etwa, wie sich das Posting-Verhalten einzelner mit der Zeit verändert. Auch scheint die Incel-Kultur ein interessanter Untersuchungsgegenstand zu sein, um die Funktionsweise sog. Brückennarrative (vgl. Meiering et al. 2016) wie Antifeminismus, Anti-Modernismus oder Antisemitismus, die verschiedene Extremismusformen miteinander verknüpfen, näher zu beleuchten. Bis dahin gilt es, das terroristische Potential toxischer Onlinekulturen auch auf behördlicher und politischer Ebene in den Blick zu nehmen. Vertiefende emanzipative, d.h. progressive Identifikationsangebote für junge Männer wären hier sicher ein guter Anfang, um dieser zutiefst reaktionären und auf Ungleichwertigkeit zielenden Identitätspolitik, deren Ausdruck Incels sind, etwas entgegen zu setzen.

Mitarbeit: Julia Straßer, Dr. Dennis Walkenhorst

FUßNOTEN:
1 https://eu.usatoday.com/story/news/world/2020/05/21/canadian-authorities-incel-terrorism-toronto-massage/5226407002/
2 https://www.unfpa.org/SoWP-2021
3 https://incels.is/threads/a-blackpill-order-of-monkcels-should-we-create-one-clarifications-and-3 improvements.289543/
4 ebd.
5 https://incels.is/threads/toilet-has-an-elliot-5 rodger-tattoo.289312/

 

LITERATUR

Cottee, S. (2021). Incel (E)motives: Resentment, Shame and Revenge. In: Studies in Conflict & Terrorism, 44 (2/2021), S. 93-114.

Haggerty, K. & Bucerius, S. (2020), Radicalization as Martialization. Towards a Better Appreciation for the Progress of Violence. In: Terrorism and Political Violence, 32 (4/2020), S. 768-788.

Hoffman et al. (2020). Assessing the Threat of Incel Violence. In: Studies in Conflict & Terrorism 43 (7/2020), S. 565-587.

Juergensmeyer, M. (2017). Terror in the Mind of God. The Global Rise of Religious Violence. Oakland: University of California Press.

Kaiser, S. (2020). Politische Männlichkeit – Wie Incels, Fundamentalisten und Autoritäre für das Patriarchat mobilmachen. Berlin: Suhrkamp.

Kaiser, S. (2021a). Gekränkt und militant: Der Angriff der Maskulinisten. In: Blätter für deutsche und internationale Politik. (3/2021), S. 79-88.

Kaiser, S. (2021b). Incels-Expertin: „Die Atmosphäre in diesen Foren ist düster“. Abgerufen von:
https : / /www.der standard.de/ story/2000125380956/incels-expertin-die-atmosphaere-
in-diesen-foren-ist-duester am 31.5.2021

Kracher, V. (2020). Incels. Geschichte, Sprache und Ideologie eines Online-Kults. Berlin: Ventil Verlag.

Meiering et al. (2016). Brückenarrative – verbindende Elemente für die Radikalisierung von Gruppen. Frankfurt am Main: HSFK.

Moonshot CVE (2020): Incels: A Guide to Symbols and Terminology. London: Moonshot CVE.

Mudde, C. (2004). The Populist Zeitgeist. In: Government and Opposition, 39 (4/2004), S. 541-563.

Stegemann, P. & Musyal, S. (2020). Die rechte Mobilmachung. Wie radikale Netzaktivisten die Demokratie angreifen. Berlin: Econ Verlag.

Witt, T. (2020). „If I cannot have it, I will do everything I can to destroy it.“ The Canonization of Elliot Roder. Incel Masculinities, secular sainthoof, and justifications of ideological violence. In: Social Identities, 26 (5/2020), S. 675-689.