Zentrale Erkenntnisse aus einem Workshop für die Deradikalisierungsforschung
Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Violence Prevention Network
Im Rahmen des RADIS-Projektes, das die Forschungsprojekte der Förderlinie „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ begleitet und miteinander vernetzt, wurde Ende Juni 2021 zu einem Wissenschafts-Praxis-Austausch eingeladen, bei dem zwei Projekte der Förderlinie sowie Berater*innen und Mitarbeiter*innen von Violence Prevention Network aus Sachsen, Baden-Württemberg und Berlin teilgenommen haben. Ziel des Workshops war es, die von Wissenschaftler*innen konzipierten Interviewleitfäden zur Erforschung von Distanzierungsprozessen mit der Fachpraxis auf ihre Anwendbarkeit zu überprüfen. Einer der Leitfäden richtete sich an Berater*innen, der andere an Klient*innen, die sich in einem Beratungsprozess befinden oder bereits ein Deradikalisierungsprogramm durchlaufen haben. In dem dreistündigen, dicht gefüllten und angeregt diskutierten Workshop fand eine zielgruppenorientierte Anpassung der Interviewfragen sowohl an die Arbeits- als auch an die Lebensrealitäten der Berater*innen und Klient*innen statt.
Die zentralen Erkenntnisse aus dem Workshop werden im Folgenden rekapituliert und aufbereitet. Die Einblicke haben dabei anwendungsorientierten Charakter, weshalb dieser Beitrag für Forscher*innen relevant sein kann, die empirische Erhebungen im Bereich der Deradikalisierungsforschung planen.
Unterschiedliche Perspektiven auf den Phänomenbereich
Die Sozialwissenschaften produzieren hauptsächlich Texte, um die Ergebnisse empirischer Forschung aufzubereiten. Die wissenschaftlichen Disziplinen bedienen sich dabei jeweils ihrer eigenen Wissenschaftssprache mit Fachtermini, die nicht nur für die nicht-akademische Welt kompliziert und unverständlich sein können. Es besteht die Annahme, je wissenschaftlich präziser und eindeutiger Forschungsfragen entwickelt werden, desto ertragreicher und repräsentativer fallen die Ergebnisse aus. Auch wenn diese Annahme durchaus berechtigt ist, ist zu berücksichtigen, dass die Übertragung dieses Ansatzes auf die Entwicklung von Interviewleitfäden genau das Gegenteil bewirken kann. Es kann aufgrund von im wissenschaftlichen Duktus gestellten Fragen, die die Perspektiven, Sprache und Lebensrealitäten dieser Gruppe zu wenig berücksichtigen, eine Distanz zu den interviewten Klient*innen entstehen. Es ist dabei oftmals notwendig, auf komplizierte Begriffe zu verzichten, eine einfache Sprache zu wählen und bei der Formulierung von Fragen darauf zu achten, sich dem Erkenntnisinteresse vorsichtig zu nähern. Weshalb dies besonders im Feld der Deradikalisierungsforschung eine wichtige Rolle spielt, wird in diesem Beitrag beschrieben.
Die Zeit mit Berater*innen ist kostbar
Vorab ist festzuhalten, dass ein umfassendes und standardisiertes Testing von Interviewleitfäden an und mit der Fachpraxis zwar wünschenswert wäre, es aber aufgrund des überforschten Feldes oft nicht möglich ist, dass alle Forscher*innen ihre Leitfäden im Vorfeld der Erhebungen besprechen können. Dafür haben Praktiker*innen aufgrund ihrer häufig unvorhersehbaren und nicht immer planbaren Arbeitsprozesse kaum Ressourcen. Es ist deshalb umso wertvoller, wenn sich doch eine Möglichkeit der Besprechung der Leitfäden mit Expert*innen noch vor ihrem Einsatz im Forschungsfeld ergibt. Dies kann zusätzlich einen Mehrwert für die interviewten Berater*innen mit sich bringen, die durch die Interviewleitfragen einen Einblick in die aktuellen Forschungsthemen erhalten.
Die erwähnten zeitlich begrenzten Kapazitäten der Befragten müssen jedoch berücksichtigt werden. Wie bei vielen anderen Forschungsfeldern auch, gilt dies sowohl bei der Planung der Interviews (Anfragen besser mehrere Monate im Voraus) als auch bei der Formulierung der Fragen. Hier sollten Fragen zum allgemeinen Arbeitsfeld der Fachpraxis, z. B. über einen Besuch der Website der Organisationen, vorab geklärt und nicht im Interview umfangreich thematisiert werden. Hilfreich ist zudem, wenn Forscher*innen vorab ihren Kenntnisstand über das Feld kommunizieren und ihre Interviewfragen präzise und nicht zu offen stellen. Mit einem ausgewogenen Mix aus Vorbereitung und ausgewähltem Themenschwerpunkt wird eine optimale Nutzung der Interviewzeit garantiert.
Ein sensibles Feld braucht auch eine sensible Sprache
Das Wording der Interviewfragen spielt eine bedeutende Rolle. Distanzierungsarbeit ist sowohl auf inhaltlicher als auch auf verbaler Ebene ein sensibles Feld. Die verwendete Sprache und vor allem die Kern- und Fachbegriffe müssen sorgfältig gewählt werden, um ein offenes, wertschätzendes und vor allem urteilsfreies Klima der Kommunikation zu gewährleisten. Trotzdem besteht häufig das Problem, dass Forschungsprojekte meist schon Begriffe wie „radikal“ und „extrem“ im Projekttitel tragen. Hier gilt es zu überlegen, wie Forscher*innen sich und ihr Projekt nach außen vorstellen, vor allem, wenn Interviews mit Klient*innen geplant sind, um keine von Grund auf ablehnende und skeptische Haltung bei ihnen hervorzurufen. Sogenannte „Trigger“-Begriffe sollten vermieden werden, wie bspw. die direkte Thematisierung der Radikalität. Es kann sein, dass Klient*innen das Label „radikal“ und „extremistisch“ als stigmatisierend bzw. festschreibend erleben. Hier wurde im Workshop diskutiert, dass Klient*innen je nach Alter, kognitiver Reife und Radikalisierungsverlauf sehr unterschiedlich reagieren und einige mit diesen Begriffen nicht mehr in Zusammenhang gebracht werden möchten. Dies wäre unter forschungsethischen Gesichtspunkten zu berücksichtigen. Was in der wissenschaftlichen Außenperspektive klar benannt werden möchte, spiegelt häufig nicht die Lebensrealität der Klient*innen wieder, die sich bspw. eben nicht als radikal empfunden haben. Unter Umständen kann eine solche Frage, in der eine Beurteilung deutlich zu erkennen ist, den Beratungsprozess in der Folge negativ beeinflussen. Wie wichtig sensible Sprache ist, zeigt sich an folgender Aussage einer Beraterin: „Wie verlieren Klient*innen, wenn wir sagen: Du bist radikal.“ Vorsichtiger formulierte Fragen können bei Klient*innen zu einem befriedigenderen Erkenntnisgewinn führen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass mehrere Fragen notwendig sein können, um das Erkenntnisinteresse zu erreichen. Im Workshop wurden zwei Einstiegsfragen zum Thema der sensiblen Sprache für den Bereich der religiös begründeten Radikalisierung entwickelt, auf die weitere Fragen aufgebaut werden könnten: „Wann hast du angefangen, dich intensiver mit religiösen Themen zu beschäftigen, und wo hast du dir Informationen dazu eingeholt?“
Alternative Erhebungsformate in der Hinterhand haben
Aufgrund der Herausforderungen, die sich bei einem angedachten Interview mit Klient*innen ergeben können, ist es nicht unwahrscheinlich, dass Forscher*innen gelegentlich auf alternative Erhebungsformate zurückgreifenmüssen. Wenn ein Interview mit Klient*innen nicht möglich ist, kann eines mit Berater*innen als Ersatz hilfreich sein, in dem sie aus ihrer Perspektive von Klient*innen berichten und sich dabei auf das Erfahrungswissen aus dem Beratungsprozess stützen. Eine weitere Alternative der Datenerhebung könnte eine Teilnahme der Forscher*innen an einer Intervision darstellen, bei der bspw. zwei Berater*innen eine kollegiale Fallberatung durchführen. Eine dritte Alternative könnten Interviews mit Klient*innen im Beisein von Berater*innen darstellen. All diese alternativen Erhebungsformate müssen bei der Auswertung zusätzlich kontextualisiert und reflektiert werden.
Die knappen Zeitbudgets der Berater*innen, die anzuwendende sensible Sprache im Gespräch mit Berater*innen und Klient*innen sowie die Offenheit für alternative Erhebungsformate sind für Forscher*innen wichtige zu berücksichtigende Punkte. Abschließend folgen nun Einblicke in die konkreten Arbeitsabläufe und -realitäten von Berater*innen in der Distanzierungsarbeit, die nochmals kontextuell die Komplexität verdeutlichen, die bei geplanten Interviews mit Berater*innen und Klient*innen in den Leitfragen zu berücksichtigen sind.
Die Unmöglichkeit der Einsicht in die Blackbox
Wenn vor allem junge Klient*innen in die Beratung kommen, bspw. aufgrund einer bestimmten Sorge eines Elternteils, findet zunächst ein Clearing-Prozess zwischen Berater*innen und Klient*innen statt, in dessen Verlauf ggf. Aspekte identifiziert werden, die Risikofaktoren für eine Radikalisierung darstellen könnten. Es geht darum, bedürfnisorientiert gemeinsam die „Ursachen“ einer möglichen Radikalisierung zu verstehen und ggf. mittels Zukunfts- und Hilfeplanung den weiteren Distanzierungsverlauf zu konzipieren. Über den Weg eines Stabilisierungsprozesses wird über die Wahrnehmungen und Perspektiven der Klient*innen gesprochen und die Beziehungsebenen, z. B. zu den Eltern, Geschwistern, Lehrer*innen, zur peer-group etc., diskutiert. Dabei können vorhandene Unsicherheiten und Enttäuschungen bzgl. der eigenen Ansichten und ggf. problematische Beziehungen identifiziert werden. Hier zeigt sich für den Beratungsprozess, ob Zweifel der Klient*innen an ihren Einstellungen und Haltungen erst entwickelt werden müssen, oder ob Zweifel, die bereits vorhanden sind, ausgebaut werden können. Diese gemeinsame Erarbeitung kann mittels der Biografiearbeit zu weiteren Reflexionsprozessen der Klient*innen führen. Nach erfolgter Biografiearbeit kann ggf. rückblickend nachvollzogen werden, ob ein Perspektivenwechsel der Klient*innen stattgefunden hat. Neben notwendigen Elementen, wie einer bedürfnis- und ressourcenorientierten Diagnostik und Hilfeplanung, laufen diese Prozesse individuell und intuitiv ab und die Unterstützungsform variiert von Fall zu Fall.
Generell ist es hilfreich, sich Deradikalisierung als etwas sehr Dynamisches vorzustellen, bei der die Distanzierungsarbeit neben entsprechenden Standards und verwendeten Instrumenten keine starren Arbeitsprozesse kennt. Deradikalisierung ist ein nichtlinearer und kognitiver Prozess, der sich schnell vollziehen oder mehrere Jahre andauern kann. Dabei lässt sich der Prozess nur schwer in Phasen unterteilen und kann sich besser als Zusammensetzung von Bausteinen, wie die Selbstthematisierung, Selbstreflexion, Verantwortungsübernahme für eigenes Handeln, die Entwicklung von Zukunftswünschen, die Aufarbeitung von kritischen Lebensmomenten etc. vorgestellt werden, die (zeitlich) unabhängig voneinander auftreten und durch verschiedene Faktoren begünstigt werden. Es gibt keine schablonenmäßig „erfolgreiche Deradikalisierung“, sondern höchstens idealtypische Verläufe. Die „Messung“ von Erfolg ist in der Distanzierungsarbeit ohnehin umstritten, denn im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stehen am Ende die Organisationen bzw. die Berater*innen, wenn Klient*innen nach einem durchlaufenen Deradikalisierungsprogramm rückfällig oder sogar gewalttätig werden. Es lässt sich nicht in das Innere eines Menschen blicken, weshalb sich Berater*innen mit Beurteilungen über ihre Klient*innen eher zurückhalten. Interviewer*innen sollten deshalb bei der Konzipierung ihrer Fragen berücksichtigen, dass allgemeingütige Aussagen kritisch gesehen werden. Dies liegt nicht zuletzt an den unterschiedlichen, im Spannungsverhältnis stehenden Handlungslogiken der beteiligten Akteur*innen, also der Sicherheitsbehörden auf der einen und der Fachpraxis auf der anderen Seite. Sicherheitsbehörden sehen ihr „Risk Assessment“ als beendet, sobald keine Gewalthandlung von einer Person und somit keine Gefahr für die Gesamtgesellschaft mehr zu erwarten ist. Diese habituelle Distanzierung („Disengagement“) ist aus Sicht der Fachpraxis jedoch nicht ausreichend, denn im Mittelpunkt der Arbeit der Fachpraxis steht die kognitive Distanzierung, um (einer Rückkehr zur) Gewaltbereitschaft nachhaltig entgegenzuwirken. Im Gegensatz zu Sicherheitsbehörden, arbeiten Berater*innen mit Klient*innen an Risikofaktoren, um eine positive Identitätsbildung der Klient*innen zu erreichen. Diese Beschreibungen zeigen, dass Interviewleitfäden an die entsprechenden Handlungslogiken der unterschiedlichen Arbeitsfelder der Extremismusprävention angepasst sein sollten.
Aufgrund des sensiblen Arbeitsfeldes und der zuvor dargestellten Gefahren für den Distanzierungsprozess und seiner Begrenzungen, ist es verständlich, dass Berater*innen und Klient*innen auf Interviewanfragen eher verhalten reagieren. Ein empfehlenswerter Zugang zur Fachpraxis, der gegenseitiges Verständnis und Vertrauen sowie ein frühes und nachhaltiges Zusammenarbeiten fördert, ist in diesem Beitrag von Maximilian Ruf nachzulesen, in dem es um das Verhältnis zwischen Wissenschaft und Praxis geht und wie dieses verbessert werden kann.
Ein solch positiver Schritt kann von Forscher*innen ausgehen, wenn bei der Planung von Interviews im Bereich der Deradikalisierungsforschung die Arbeitsrealitäten der Berater*innen und die Lebensrealitäten der Klient*innen berücksichtigt werden. Die Datenerhebungen können dabei ertragreicher sein, wenn auf eine einfache und vor allem sensible Sprache mit urteilsfreieren Begriffen sowie auf thematisch differenziert formulierte Fragen geachtet wird. Aufgrund der empfindlichen Distanzierungsarbeit sollten zudem ggf. alternative Interviewformate in Erwägung gezogen werden.
Zum Projekt:
RADIS – Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa
In der BMBF-Förderbekanntmachung „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ forschen zwölf Forschungsprojekte zu den vielen Facetten des Phänomenbereichs radikaler Islam: Welche Gründe lassen sich für das Erstarken islamistischer Tendenzen im deutschsprachigen und europäischen Raum identifizieren? Wie wirken islamistische Strömungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes? Und welche Schlüsse können aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit der Präventionspraxis, Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien gewonnen werden? Diesen und weiteren Fragen gehen Forschende vieler verschiedener Disziplinen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Blickwinkeln im Zeitraum von 2020 bis 2025 nach.