Herausforderungen für eine nicht-stigmatisierende Bildungsarbeit
Anne Goldenbogen | INTERVENTIONEN – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik | Ausgabe 4/2014
„Abwertende Einstellungen sind keine Eigenschaften, die von vornherein von bestimmten Gruppen gezeigt werden, sie entwickeln sich in Auseinandersetzung mit Narrativen einerseits und mit der materiellen und sozialen Lebenssituation anderseits, als Reaktionen auf die Gesellschaft und das Zusammenleben der Menschen miteinander. Daher sind abwertende Einstellungen dann überwindbar, wenn sich die Gesellschaft für die komplexen Hintergründe problematischer Einstellungen und Verhaltensweisen sensibilisiert.“ (Mansel/Spaiser 2010)
Antisemitismus ist ein Phänomen, zu dessen Charakteristika es gehört, sich historisch zu transformieren und unterschiedlichen gesellschaftlichen Realitäten anzupassen. Das macht die kritische Auseinandersetzung schwierig, aber auch spannend. Es gibt wenig vorurteilsbehaftete Denkmuster, über die in einer solchen Vehemenz gestritten wird wie über die des Antisemitismus: „Das wird man doch wohl noch sagen dürfen, ohne gleich als Antisemit dazustehen!“; „Antisemitismuskeule“; „Schuldkult“; „Ja, aber…“; „Und wie halten Sie es mit Israel?“ – die Aufzählung solcher Sätze und Satzanfänge könnte Seiten füllen. Bei vielen folgt danach nichts Gutes. Gleichzeitig ist nicht jede solcher oder ähnlicher Aussagen grundsätzlich immer antisemitisch motiviert. Und es lässt sich auch nicht von einzelnen Aussagen auf ein Weltbild schließen (was allerdings die einzelnen Aussagen nicht weniger problematisch macht).
Klar ist: Außerhalb der extremen Rechten und des islamischen Fundamentalismus ist Antisemitismus als manifestes Weltbild glücklicherweise eher selten anzutreffen. Deutlich weiter verbreitet ist die Reproduktion einzelner Stereotype und Topoi, die Konstruktion von Differenz und ein fragmentarischer Rekurs auf antisemitische Deutungsmuster. Von einzelnen Äußerungen ist in den meisten Fällen nicht auf eine gefestigte Einstellung zu schließen (vgl. Schäuble 2012). Und, was oftmals unter den Tisch fällt: bei Erwachsenen ist vorurteilsbehaftetes Denken weiter verbreitet als bei Jugendlichen. Klar ist aber auch: Elemente des sekundären Antisemitismus wie auch antisemitische Bezugnahmen auf den Staat Israel und/oder den Nahostkonflikt sind in Deutschland leider immer noch ein aktuelles Problem.
Zwei Aspekte werden hier schon deutlich, die für eine sinnvolle antisemitismus-kritische Bildungsarbeit von großer Bedeutung sind. Zum einen braucht es ein möglichst fundiertes Verständnis des Phänomens Antisemitismus selbst, seiner Genese, Erscheinungsformen und Funktionen. Zum anderen ist eine gute Kenntnis der Zielgruppe(n) und ihre Lebensrealitäten notwendig, was Wissen über aktuelle gesellschaftliche Diskurse, Strukturen und Verhältnisse einschließt.
Antisemitismus ist mit Alexander Pollak zu verstehen als eine „Feindseligkeit gegenüber Juden als ‚der Jude‘, wobei ‚der Jude‘ keine reale Person ist, sondern eine erfundene, mit imaginären Eigenschaften versehene.“ (Pollak 2008:24) Antisemitismus ist also keine ausschließliche Frage der Haltung gegenüber tatsächlichen oder vermeintlichen Juden, sondern setzt bereits vorher an, nämlich in der Definition dessen, was als „Jude“ oder „jüdisch“ verstanden wird. Antisemitismus in seiner spezifischen Dimension fungiert darüber hinaus als Deutungsmuster, das „die unterschiedlichsten gesellschaftlichen, politischen und sozialen Phänomene in der modernen Gesellschaft mit dem Wirken von Juden ‚erklärt‘ und in Juden personifiziert“ (Rensmann/Schoeps 2008:12) Damit bietet Antisemitismus seinem Träger / seiner Trägerin mehr als „nur“ Selbstaufwertung durch Abwertung anderer. Er bietet Orientierung, Sicherheit und vor allem Identität. Klaus Holz bringt das auf den Punkt, wenn er sagt, „Antisemitismus ist identitätsstiftende Weltdeutung.“ (Holz 2005: 10)
Sekundärer Antisemitismus
Die Niederschlagung des Nationalsozialismus im Mai 1945 und die Staatsgründung Israels drei Jahre später stellen zwei historische Zäsuren dar, die für die Analyse aktueller Erscheinungsformen des Antisemitismus und deren Funktionen unabdingbar sind. Mit dem Ende des Holocaust, quasi im Angesicht der beinahe vollendeten Vernichtung der europäischen Juden, entstand in Deutschland (und in Österreich) eine neue Form des Antisemitismus. Dieser als „sekundär“ bezeichnete Antisemitismus reagiert auf die Verbrechen des NS und die Shoah mit Aggression gegenüber den Opfern. Scham, Mitleid, Reue sind entweder gar nicht vorhanden oder werden als Belastung empfunden und deshalb unterdrückt und umgewandelt in Abneigung oder Hass. Warum? Weil die Shoah in ihrer Qualität und Quantität jedwede ungebrochene positive Identifikation und Identität unmöglich machte – sowohl die kollektiv-nationale als auch die individuell-familiäre. Das Repertoire des sekundären Antisemitismus ist breit. Es reicht von der Leugnung oder Relativierung des Holocaust über die Abwehr der Beschäftigung mit dem Thema und die Forderung nach einem Schlussstrich bis hin zur Täter-Opfer-Umkehr, die „dem Juden“ unterstellt, selbst schuld zu sein an seiner Verfolgung, bis heute Vorteile aus dem Holocaust zu ziehen, „die Deutschen“ quälen und bluten lassen zu wollen und dabei im Grunde heute mit den Palästinensern auch nichts anderes zu machen, als das, was er doch selbst von den Nazis erleiden musste. Und genau so gelingt ein entlastender Brückenschlag vom Gestern ins Heute, zum Nahost-Konflikt. Vorteile dieser Sichtweise für das Individuum liegen auf der Hand: Entlastung und / oder Rationalisierung. Entlastung von der deutschen Geschichte, Entlastung von möglichen persönlichen oder familiären Verstrickungen, Rationalisierung eigener Vorurteile und Deutungsmuster.
Israelbezogener Antisemitismus
Allgemein sind nach 1945 offene antisemitische Äußerungen in Deutschland eher selten geworden. Stattdessen werden Anspielungen, Codes oder argumentative Umwege genutzt. Die Bezugnahme auf den Staat Israel kann solch eine Form der Umwegkommunikation sein – also eine Möglichkeit, antisemitische Ressentiments mit nur geringem Sanktionierungsrisiko äußern zu können. Beate Küpper und Andreas Zick von der Universität Bielefeld beschreiben das Phänomen auf Basis langjähriger Untersuchungen sehr treffend: „Eine häufig als ‚neu’ bezeichnete Facette des Antisemitismus operiert mit einer Kritik an Israel, bzw. der israelischen Politik ganz überwiegend in Bezug auf die Palästinenser. Diese scheinbar neutrale, oft leidenschaftlich vorgetragene Kritik weist nicht selten gleich darauf hin, dass Kritik an Israel nicht erlaubt sei und der Kommentator sofort des Antisemitismus bezichtigt würde. In der Tat erweist sich vielfach die vorgetragene Kritik an Israel beladen mit Antisemitismus bzw. als Vehikel, Antisemitismus zu transportieren.
Auch die auffällige Emotionalität trägt antisemitische Züge, ist sie doch in dieser Form oft singulär beim Thema Israel und Nahostkonflikt zu beobachten, nicht aber bei anderen ungleich schlimmeren Konflikten gemessen an der Zahl der Opfer und anderen Kriterien.“ (Zick/Küpper 2011: 13) Die Frage danach, wo Kritik an Israel ins Ressentiment umschlägt oder das Ressentiment sich lediglich als Kritik tarnt, gehört zu den häufig und kontrovers diskutierten. Als Orientierung zur Einordnung können folgende Kriterien helfen: Eine Kritik an Israel lässt sich als antisemitisch bezeichnen, wenn
- sie mit antisemitischen Stereotypen arbeitet (wie etwa dem uralten Bild vom Juden als Kindsmörder).
- ein doppelter Standard anlegt wird.
- alle Juden, egal wo auf der Welt, verantwortlich gemacht werden für die israelische Politik (d. h. Israel zum ‚kollektiven Juden’ gemacht wird).
- wenn die israelische Politik mit den Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands gleichsetzt wird. (vgl. EUMC 2005).
Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft
Es gibt keinen monokausalen Zusammenhang zwischen ethnischer oder religiöser Herkunft und antisemitischen Denkmustern. Menschen – Jugendliche wie Erwachsene – tendieren allgemein dazu, andere Gruppen von Menschen abzuwerten. Welche soziale Gruppe jedoch in welchem Ausmaß und in welcher Ausprägung abgewertet wird, unterscheidet sich einer Studie der Universität Bielefeld zufolge auch anhand verschiedener Migrationshintergründe. Allerdings kann dafür nicht der Migrationshintergrund an sich als Ursache angesehen werden, sondern damit einhergehende Faktoren, wie beispielsweise die Rezeption bestimmter Diskurse, eine spezifische Mediennutzung oder sozial erwünschtes Denken und Sprechen im sozialen Umfeld. Jürgen Mansel und Victoria Spaiser stellen in der Studie fest:
- Deutsche Jugendliche werten insbesondere Muslime ab. Außerdem sind Motive des sekundären Antisemitismus verbreitet.
- Bei Jugendlichen aus muslimisch geprägten Sozialisationskontexten finden sich verstärkt homophobe Einstellun Antisemitismus ist ebenfalls verbreitet, insbesondere in Form von israelbezogenem Antisemitismus.
- Jugendliche aus der ehemaligen Sowjetunion sind in hohem Maße anfällig für rassistische Überzeugungen und für Islamophobie.
- Ausschlaggebend, bestimmte Gruppen abzuwerten, ist – so die Studie – sich von diesen Gruppen bedroht zu fühlen. (vgl. Mansel/ Spaiser 2010: 68)
Anerkennungskämpfe und Opferkonkurrenzen
Ein Bedrohungsgefühl – das ist auch unsere Erfahrung – artikulieren beispielsweise viele muslimisch sozialisierte Jugendliche im Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt. Israel bzw. „die Juden“ werden als Aggressor wahrgenommen, der Konflikt selbst als Kampf „des Westens“ gegen „die Muslime“. Aber auch „die Juden“ in Deutschland werden teilweise als Bedrohung imaginiert – von vielen Jugendlichen, unabhängig von ihrem Hintergrund. „Den Juden“, so die Wahrnehmung, würde in Deutschland (oder auch global) als einziger Gruppe ein allgemeiner Opferstatus zuerkannt, während alle anderen Diskriminierungserfahrungen, Praxen rassistischer und sozialer Ausgrenzung oder kollektive Leidens-, Flüchtlings- und Vertreibungsgeschichten ausgeblendet und ignoriert würden. Und das, so die weitere Argumentation, obwohl „die Juden“ heute selber Täter seien und im Nahostkonflikt tausendfaches Leid verursachten. Auf dieser Basis werden eigene Diskriminierungserfahrungen oder Diskriminierungserfahrungen des Kollektivs, welchem man sich zugehörig fühlt, in Konkurrenz gesetzt zur Gruppe „der Juden“ – das Phänomen der sogenannten „Opferkonkurrenz“. Das kann durch Verweise auf die Lage der Palästinenser/-innen im Nahen Osten geschehen, durch Verweise auf rassistische und sozial ausgrenzenden Diskurse und Realitäten in Deutschland oder durch die Einforderung der Anerkennung der Leiden der deutschen Vertriebenen.
Das Problem dabei ist nicht, wie Bernd Fechler richtig beschreibt, die Betonung des eigenen Opferstatus, sondern die „Vermischung nachvollziehbarer Anerkennungsforderungen mit antisemitisch strukturierten und immer wieder auch so gemeinten Begründungen“. (Fechler 2006: 194) Deshalb kommt es in der pädagogischen Auseinandersetzung mit Opferkonkurrenzen darauf an, die Empfindungen, Erfahrungen und Ansprüche der Jugendlichen einerseits ernst zu nehmen, sie andererseits aber auch historisch und gesellschaftlich zu kontextualisieren und gegen Funktionalisierungen und Instrumentalisierungen deutlich Stellung zu beziehen.
Islamfeindlichkeit und Diskriminierungserfahrungen
Die hohe Zustimmung unter herkunfts- deutschen Jugendlichen zu anti-muslimischen Ressentiments verweist auf einen weiteren Aspekt, der sowohl für die theoretische als auch die praktische Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Migrationsgesellschaft wichtig ist: Die steigende Islamfeindlichkeit in der Mitte der Gesellschaft. Die Langzeitstudie
„Deutsche Zustände“ konstatiert einen deutlichen Zuwachs anti-muslimischer Einstellungen, insbesondere in der politischen Mitte und etwas links davon wie auch unter den Besserverdienenden. Als „konsensfähig“ bezeichnet Heitmeyer die Islamfeindlichkeit, und weist darauf hin, dass auch ein höheres Bildungsniveau diesem Ressentiment nicht entgegenwirkt – im Gegensatz zu fast allen anderen Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. (vgl. Heitmeyer 2010)
Das Erleben von sozialer, ökonomischer und / oder politischer Exklusion hat meist Folgen. Denn die Wahrnehmung von Ablehnung, ob nun aufgrund der Zuschreibung als vermeintliche Ausländer oder in Form einer generalisierten Ablehnung als Muslime, produziert Konflikte, gerade bei Jugendlichen. Der Bedarf an Selbstvergewisserung ist in der Phase des Erwachsenwerdens groß. Gleichzeitig kann die Co-Existenz vielfältiger Identitätsangebote und vieler negativ konnotierter Fremdzuschreibungen Verunsicherung schaffen und Anknüpfungspunkte bieten für problematische, beispielsweise antisemitische, Aufladungen. Diese Beobachtung machte auch Anke Schu vom Deutschen Jugendinstitut im Rahmen einer qualitativen Befragung männlicher muslimischer Jugendlicher: „Die Juden, von denen die Jugendlichen sprechen und die sie beschreiben, sind aber weit weg, unerreichbar, nicht konkret. Die Folge – keineswegs eine zwangsläufige, aber im Falle der Befragten Jugendlichen eine zutreffende – eine konkrete rationale Kritik bleibt aus, Irrationalitäten, Fantasiegebilde und realitätsferne Konstrukte bestimmen die Auseinandersetzung. Diese vermengen sich zu antisemitischen Konstruktionen, welche dann von den Jugendlichen gebraucht werden. Im Falle der von mir Befragten verstehe ich die Projektionen als eine Konfliktverschiebung, zumal die antisemitische Haltung ja nicht aus der real sozial schwierigen Beziehung oder einem Konflikt zwischen den Befragten und den Juden resultiert, sondern ihren Ursprung an anderer Stelle hat. Es sind unerfüllte Wünsche und verdrängte Aggressionen, die das eigene Ich betreffen. Zum einen empfinden die Jugendlichen die eigene Ohnmacht, das Gefühl von Übergangen werden und mangelhafter Partizipation bei gleichzeitiger Dressur und Unterordnung unter das gesellschaftlich Geforderte sowie unter das familiäre wie religiöse Kollektiv als steten Druck, als Belastung und Unrecht.“ (Schu 2013: 43)
Dieses Zitat fasst viel, aber nicht alles. Ein schwieriges Feld bleibt ausgeklammert, das für die Auseinandersetzung mit aktuellen Formen des Antisemitismus von hoher Relevanz ist – der Nahost-Konflikt. Denn, auch wenn der Umgang mit ihm meist projektiv ist, handelt es sich doch um einen realen Konflikt, an dem real auch Juden beteiligt sind. Und genau das – das Neben- und Durcheinander von Realität und Projektion – macht die Sache kompliziert, sowohl in der Analyse als auch in der pädagogischen Bearbeitung.
Die Ausgangslage im Überblick
Es gibt keinen strukturell neuen Antisemitismus und wir haben es nur im Ausnahmefall mit handfesten Antisemiten zu tun. Allerdings sind judenfeindliche Stereotype und Deutungsmuster weit verbreitet und werden fragmentarisch genutzt. Dabei handelt es sich sowohl um Topoi des sekundären Antisemitismus („Profit aus dem Holocaust schlagen“, Erinnerungsabwehr etc.) als auch um klassische Motive (Geld, Macht) sowie problematische Bezugnahmen auf den Nahostkonflikt (Nazi-Vergleiche, Existenzrechtaberkennung).
Häufig sind wir konfrontiert mit wenig Wissen gepaart mit hoher Emotionalität. Das liegt daran, dass in der Thematisierung von Antisemitismus gleichsam zentrale Fragen von Individuum und Gesellschaft verhandelt werden: Fragen von Identität, Macht und Ohnmacht, Anerkennungs- kämpfe und Opferkonkurrenzen, Flucht- und Vertreibungserfahrungen, durch nationalgeschichtliche oder familiäre Narrationen geprägte Loyalitäten oder auch Erfahrungen von Diskriminierung und darauf aufbauende Parallelisierungen.
Lehrkräfte und andere Multiplikatoren/- innen befinden sich oft im Spannungsfeld von Überforderung mit dem Thema bei gleichzeitiger Reproduktion von Ressentiments sowohl gegenüber dem Bildungsgegenstand als auch gegenüber der Zielgruppe. Kurz gesagt: auch Pädagogen/-innen sind nicht frei von Vorurteilen.
Was also tun?
Wie bereits dargelegt, sind wir in der pädagogischen Realität im seltensten Fall mit geschlossenen antisemitischen Weltbildern konfrontiert. Aber auch in den seltensten Fällen mit Menschen, die komplett frei sind von vorurteilsbehaftetem Denken. Die meisten Jugendlichen und Erwachsenen bedienen sich fragmentarisch entsprechender Muster, Bilder oder Stereotype. Es gibt wenig Konsistenz, und scheinbar widersprüchliche Deutungen können nebeneinander stehen: Zum Beispiel große Empathie für die Opfer des Nationalsozialismus, auch für die jüdischen Opfer, und gleichzeitig eine absolut eindeutige Positionierung im Nahostkonflikt in einem teilweise durch- aus als antisemitisch zu fassenden Sin- ne. Die Herausforderung in der kritischen Auseinandersetzung mit Antisemitismus besteht deshalb unseres Erachtens in erster Linie darin, selbstreflexive Denk- und Lernprozesse anzustoßen.
Deshalb ist die abschließende Publikation unseres Bundesmodellprojektes „Anerkennen, Auseinandersetzen, Begegnen– präventive pädagogische Konzepte gegen Antisemitismus für die Migrationsgesellschaft“, die im Herbst 2013 erschien, mit dem Begriff der „Widerspruchstoleranz“ überschrieben. Das Konzept der Widerspruchs- oder auch Ambiguitätstoleranz stammt aus der Vorurteilsforschung. Es beschreibt das Vermögen, Vieldeutigkeit und Widersprüchlichkeiten wahrzunehmen und zu ertragen, und mit Ungewissheiten und unterschiedlichen Rollenerwartungen sich selbst und anderen gegenüber umzugehen. Wir haben uns für diesen Titel entschieden, weil wir das Aushalten von und das Umgehen mit Mehrdeutigkeit und Widersprüchen gleichermaßen als unser Bildungsziel und unseren Bildungsansatz begreifen. Das bedeutet, dass wir Widerspruchstoleranz nicht lediglich als Fähigkeit verstehen, die es anderen zu vermitteln gilt. Vielmehr müssen sich auch Multiplikatoren/-innen diese Kompetenz erarbeiten und sie kontinuierlich trainieren.
Lernen und Lehren über den Holocaust
Rekurrierend auf die Forderung Adornos, alle Bildung darauf auszurichten, dass Auschwitz sich nicht wiederhole, stützte sich die politische Bildung in Deutschland lange Zeit auf die Annahme, die Vermittlung von Wissen über den Nationalsozialismus und den Holocaust, die Konfrontation der nachwachsenden Generationen mit dem Grauen und der Brutalität der industriellen Vernichtung von Menschen, würden ausreichen, Jugendliche gegen menschenverachtende Ideologien, anti- antisemitische Stereotype und rassistische Vorurteile zu immunisieren.1 Angesichts der nach wie vor weiten Verbreitung rechtsextremistischen Gedankenguts, rassistischer und antisemitischer Einstellungsmuster und einer gleichzeitigen, immer häufiger sich deutlich artikulierenden Ablehnung der Beschäftigung mit dem Themenkomplex „Holocaust“ durch Jugendliche muss dieses Bildungskonzept einer kritischen Betrachtung unterzogen werden. „Wir müssen uns die Frage stellen, ob das Projekt ‚Holocaust-Erziehung‘ nicht zu einer Unterrichtseinheit zu verkommen droht, die Defizite gesellschaftlicher Entwicklungen kompensieren soll und die überfrachtet wird mit Zielen wie Toleranzerziehung, demokratische Wertevermittlung und nicht zuletzt Strategien gegen Antisemitismus.“ (Wetzel 2006: 1f.)
Für uns bedeutet das jedoch nicht, Nationalsozialismus und Holocaust gar nicht zu thematisieren, sondern sich der Herausforderung einer zeitgemäßen Vermittlung zu stellen. Denn Wissen darüber ist notwendig, auch um die Gegenwart zu verstehen, und wir haben den Eindruck, dass die Jugendlichen heute tendenziell immer weniger darüber wissen. Vielleicht, weil auch einige Lehrer keine Lust mehr haben, das Thema zu behandeln. Die Erfahrung in unserem Projekt zeigt, dass die Jugendlichen durchaus interessiert sind. Dass sie sich häufig aber gegen zu starke moralische Aufladungen wehren, gegen das Gefühl, betroffen sein zu müssen – und so nicht die Chance bekommen, ein persönliches Verhältnis zur Geschichte entwickeln zu können. Zum Thema Holocaust gibt es ein geringes tatsächliches und ein gefühltes riesiges Wissen. Viele Schüler/-innen sagen am Anfang: „Wir wissen das alles schon.“ Tatsächlich ist das nicht der Fall. Also bemühen wir uns, das Thema offener zu gestalten. Wir steigen in der pädagogischen Arbeit beispielsweise mit einem Quiz ein. Und arbeiten dann mit Biografien. Unter anderem mit der Biografie von Isaak Behar, einem türkischen Juden, der sich in Berlin versteckt hatte. Die meisten Jugendlichen (und auch Erwachsenen) wissen nicht, dass es türkische Juden gibt. Und sie wissen nicht, dass es türkische Juden in Berlin während des Nationalsozialismus gab.
Durch die Arbeit mit Biografien wird deutlich, dass es nicht „den Juden“ gab und gibt, sondern, dass die Menschen unterschiedliche Hintergründe und Selbstverständnisse hatten und zu „den Juden“ gemacht wurden. Diese Konstruktion „des Jüdischen“ durch den Nationalsozialismus wollen wir verdeutlichen. Darüber hinaus lassen wir die jüdische Geschichte in Deutschland oder in Europa nicht mit 1945 enden, mit sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden. Wir haben in der Mehrzahl Personen ausgewählt, die den Holocaust überlebt haben. Einige waren danach in Deutschland aktiv, bauten die jüdische Kultur und das jüdische Leben wieder auf. Andere gingen nach Israel, weil sie sich nicht vorstellen konnten, nach dem Holocaust jemals wieder woanders leben zu können als in einem jüdischen Staat. Und wieder andere waren hin- und hergerissen. Zum Beispiel Inge Deutschkron, die erst von England nach Deutschland zurückkehrte, hier mit Alt-Nazis und Antisemitismus konfrontiert wurde und deshalb später nach Israel auswanderte und noch später wieder nach Deutschland ging.
Pädagogischer Umgang mit Israel und Palästina
Es gibt – wie weiter vorn im Text dargelegt – Bezugnahmen auf Israel und den Nahost-Konflikt, die als antisemitisch zu kategorisieren sind. Und es gibt gleichzeitig Formen nicht-antisemitischer Kritik an Israel. Relevant für die Unterscheidung sind sowohl der explizite Inhalt des Gesagten als auch die jeweils zu Grunde liegenden Motivationen. Allerdings ist es gar nicht so einfach, letztere in jedem Fall eindeutig zu identifizieren. Einerseits nämlich kann der Nahostkonflikt, wie beschrieben, als Umwegkommunikation für antisemitische Ressentiments mit dem Ziel der eigenen Entlastung dienen. Andererseits aber kann er als Plattform für anti-muslimische Positionierungen dienen. In der zugespitztesten Form dieser Instrumentalisierung des Konfliktes werden der jüdische Staat und die jüdische Bevölkerung als Bollwerk der europäischen Aufklärung gegen einen als archaisch imaginierten Orient und seine Bewohner/-innen in Stellung gebracht. Diese Sichtweise geht einher mit muslimfeindlichen Ressentiments, die sich auch in Bezug auf die deutsche Gesellschaft manifestieren. Gleichzeitig gibt es insbesondere in der muslimisch sozialisierten Bevölkerung Deutschlands eine Bezugnahme auf den Nahost-Konflikt, die sich aus anderen, auch gegenläufigen Motiven speist. Sie reicht von direkter Betroffenheit vom Konflikt bei palästinensischen Flüchtlingsfamilien über Solidarisierungseffekte als „Araber“, „Ausländer“ oder „Muslime“, Diskriminierungserfahrungen und Kämpfe um Anerkennung bis hin zur Reproduktion islamistischer Argumentationsfiguren.
Für die pädagogische Praxis ist die Ausgangslage also komplex. Es spielen vielfältige Faktoren eine Rolle: Fragen von Identität, Macht und Ohnmacht, Anerkennungskämpfe und Opferkonkurrenzen, persönliche oder familiäre Flucht- und Vertreibungserfahrungen, durch nationalgeschichtliche oder familiäre Narrative geprägte Loyalitäten oder auch Erfahrungen von Diskriminierung und darauf aufbauende Parallelisierungen von Ausgrenzungs- oder Unterdrückungserfahrungen.
Unser Lernziel in der pädagogischen Auseinandersetzung mit dem Nahost-Konflikt im Rahmen der Arbeit gegen Antisemitismus ist es deshalb, kollektivierenden Zuschreibungen und Vereindeutigungen entgegenzuwirken und Menschen zu befähigen, Mehrdeutigkeit aushalten zu können. Dafür haben wir beispielsweise einen Zeitstrahl entwickelt. Er beginnt mit dem Zionismus und der verstärkten jüdischen Einwanderung in das historische Palästina Ende des 19. Jahrhunderts, und endet 1949 mit dem ersten israelisch-arabischen Krieg und der Flüchtlingsfrage. An ausgewählten Ereignissen werden die – an ebendiesen Stellen oft gegensätzlichen – jüdisch- israelischen und palästinensischen Narrationen vorgestellt und gleichberechtigt stehen gelassen. Diese Darstellung von zwei Perspektiven steht scheinbar im Widerspruch zu unserem erklärten Ansatz, kollektivierende Zuschreibungen aufzuheben und zu zeigen, dass es keine monolithischen Blöcke von „den Israelis“ und den „Palästinensern“ gibt. Aber: Wenn wir im Zeitstrahl von „der jüdisch- israelischen“ und „der palästinensischen“ Sichtweise sprechen, meinen wir die offizielle, kollektive, große Erzählung. Aufzuzeigen, dass es mindestens zwei Erzählungen gibt, die, obwohl sie teilweise gegensätzlich sind, ihre Legitimität haben, reduziert zwar kurzfristig die Perspektivenvielfalt auf zwei, erweitert jedoch gleichzeitig den Blick der Teilnehmenden um mindestens eine Sichtweise.
An den Zeitstrahl anschließend versuchen wir den Bogen ins Heute zu schlagen. Dafür haben wir uns aufgrund der Rückmeldungen der Jugendlichen entschieden. Vielen fehlt die Thematisierung aktueller Konfliktlagen. Deshalb widmen wir uns einem immer noch höchst brisanten Aspekt: der Flüchtlingsfrage. Ein weiterer Grund für diese Entscheidung war, dass wir oft palästinensische Jugendliche und damit familiäre Flüchtlingsschicksale in den Klassen haben. Darüber hinaus berührt die Flüchtlingsfrage so viele weitere Fragen, dass an ihr die Komplexität der Lage gut aufgezeigt werden kann. Wir animieren die Jugendlichen dazu, sich Gedanken über eine Lösung zu machen, die diese Komplexität einbezieht. Und zwar auf der Grundlage der Dinge, die wir vorher gemeinsam bearbeitet und diskutiert haben.
Zusammenfassend können unseres Erachtens folgende Faktoren als zentral für eine nicht-stigmatisierende, antisemitismuskritische Bildungsarbeit mit Jugendlichen gelten:
- das Individuum in den Mittelpunkt stellen (und damit kollektivierenden Konstruktionen und Zuschreibungen entgegenwirken)
- nach Motiven und Hintergründen fragen, statt zu skandalisieren und zu moralisieren
- Wissen vermitteln und Emotionen aushalten
- Perspektivwechsel fördern
- Mehrdeutigkeit zulassen
- Nachhaltigkeit durch Kontinuität anstreben
- glaubwürdig sein
Qualifizierung von Multiplikatoren/- innen
Häufig wird in wissenschaftlichen Beiträgen oder im öffentlichen Diskurs auf das Erschrecken und die Hilflosigkeit von Lehrkräften im Umgang mit Antisemitismus verwiesen. Die Verbreiterung und Verstetigung von Qualifizierungsangeboten ist deshalb unbedingt wünschenswert. Eine Konkretisierung aber sollte hinzugefügt werden: Dass nämlich die Fortbildungen nicht ausschließlich auf einen sinnvollen Umgang mit „den Anderen“ abzielen, sondern selbstreflexiv angelegt sind. Dabei gilt es zu fragen: Wie vertraut sind Pädagogen/-innen mit den Lebensrealitäten, Bezugsrahmen und Identitätskonstruktionen ihrer Adressaten/-innen? Welches Interesse haben sie selber an einer Auseinandersetzung mit antisemitischen Stereotypen und Deutungsmustern? Wie bewusst ist ihnen eigenes Involviert-Sein in den Bildungsprozess? Inwieweit setzen sie sich mit eigenen Einstellungsmustern und Vorurteilen auseinander?
Multiplikatoren/-innen sollten sich bemühen, eigene Verstrickungen in gesellschaftliche und politische Diskurse zu erkennen und zu reflektieren. Tun sie das nicht, besteht die Gefahr, dass die Auseinandersetzung mit Antisemitismus zur „affirmativen“ Bildungsarbeit verkommt: „Als affirmativ bezeichne ich eine Form von Bildung, bei der ich mich selbst dem Gegenstand entziehen kann, eigene Bilder und Auffassungen unberührt bleiben, weil von vornherein feststeht, wie die Sache zu sehen ist.“ (Messerschmidt 2006: 170) Für die Bildungsarbeit in der Migrationsgesellschaft ist das in doppeltem Sinne relevant. So ist es hier für die Pädagogen/-innen nicht nur notwendig, sich selbstreflexiv mit dem Bildungsgegenstand auseinanderzusetzen, sondern auch mit dem Bildungsprozess und den darin Angesprochenen. Dabei spielen die Wahrnehmung und Anerkennung von unterschiedlichen Diskriminierungen und Privilegierungen eine ebenso wichtige Rolle wie die kritische Reflexion nationaler Tradierungen von Geschichte und kollektiver Erinnerungsformen.
1 Dieser Kurzschluss tut Adorno Unrecht. Politischer Unterricht in diesem Sinne erreicht, schreibt er, „wohl meist nur die, welche dafür offen und eben darum für den Faschismus kaum anfällig sind. […] Selbstverständlich wird Aufklärung bei diesen Gruppen sich nicht bescheiden. Ich will dabei von der sehr schwierigen und mit größter Verantwortung belastenden Frage absehen, wie weit es geraten sei, bei Versuchen zu öffentlicher Aufklärung aufs Vergangene einzugehen, und ob nicht gerade die Insistenz darauf trotzigen Widerstand und das Gegenteil dessen bewirke, was sie bewirken soll. Mir selbst will es eher scheinen, das Bewusste könne niemals so viel Verhängnis mit sich führen wie das Unbewusste, das Halb- und das Vorbewusste.“ (Adorno: Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit. In: Ders. Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959 – 1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt/Main 1971. S. 10 – 28. S. 24f.)
Die Autorin
Anne Goldenbogen ist Diplom-Politikwissenschaftlerin und leitete von 2011 bis 2013 das Modellprojekt „Anerkennen, Auseinandersetzen, Begegnen – präventive pädagogische Konzepte gegen Antisemitismus für die Migrationsgesellschaft“ bei KIgA e.V. Darüber hinaus entwickelt und leitet sie Qualifizierungsmaßnahmen für Lehrkräfte, Sozialpädagogen/- innen und andere Multiplikatoren/-innen zum Themenkomplex Antisemitismus, Migrationsgesellschaft und Bildungsarbeit.