Radikalisierung als biographisches Phänomen

Hinwendungsmotive und Radikalisierungsprozesse junger Menschen

Thomas Mücke | INTERVENTIONEN – Zeitschrift für Verantwortungspädagogik | Ausgabe 2/2013

Radikalisierung, d. h. die prozesshafte Entwicklung menschenfeindlicher Haltungen verbunden mit Gewaltakzeptanz, ist nicht ausschließlich ein Jugendphänomen, sondern findet sich in allen Alters- und Bevölkerungsgruppen wieder. Bei Jugendlichen sind die besonderen Sozialisationsbedingungen für die Entwicklung menschenfeindlicher Haltung zu berücksichtigen.

Soziale und familiäre Desintegrations- und Enttäuschungserfahrungen – einhergehend mit geringen Akzeptanzgefühlen und problematischen Cliquendynamiken – führen zu einer erschwerten Identitätsbildung bei Jugendlichen. Bei Fehlen einer eigenständigen Identität besteht die Gefahr der „Radikalisierung von Restidentitäten“. Dies kann dazu führen, dass junge Menschen sich extremistische, hypermaskuline, fundamentalistische oder traditionalistische Einstellungen zu Eigen machen, sich bei ihnen demokratiedistanzierte und gewaltaffine Einstellungen entwickeln und sie einem „misslungenen Selbstheilungsprozess“, d. h. der Verfestigung ihrer Gewalt- und Radikalisierungskarriere, unterliegen.

Das Problem: Von der Missachtung zur eigenen Gewaltausübung und Radikalisierung

Die Arbeit mit gewalttätigen Jugendlichen, die menschenverachtende Gedankenmuster aufweisen, macht immer wieder deutlich, dass sich ein roter Faden von Demütigung, Vernachlässigung, Verunsicherung, Gewalt und Gleichgültigkeit durch ihre Biografie zieht. Oft erleben die PädagogInnen eine Verdrängung dieser Erfahrungen, ermöglicht durch eigene Gewaltausübungen. Junge Menschen, bei denen solche Beobachtungen gemacht werden können, kennen zumeist gar nicht den Zusammenhang ihrer Lebensgeschichte und ihrer heutigen Gewalthaltungen. Sie durchlaufen nicht die gewöhnlichen Lebensphasen der Identitätsentwicklung, sondern nur die Summe von Bruchlinien der Verunsicherungen (inneres Chaos).

Es lassen sich immer wieder ähnliche Entwicklungen und Geschehnisse innerhalb der Biografien delinquenter männlicher Jugendlicher mit ideologisierten Ein- stellungsmustern festmachen.

  • Abwesenheit der Väter in der Erziehung;
  • gewalttätige Erziehungsformen;
  • primäre und sekundäre Viktimisierungsprozesse in der Kindheit;
  • abwertende Erziehungsbotschaften;
  • Alkoholmissbrauch der Eltern;
  • patriarchalische Familienstrukturen;
  • familiäre Überforderung, Desinteresse und soziale Desintegration mit der Folge geringer ökonomischer und zeitlicher Ressourcen;
  • bildungsferner Status;
  • fehlende schulische Unterstützung der Kinder;
  • schuldistanziertes Verhalten und niedriger Schulabschluss mit der Folge ausbleibender Erfolgserlebnisse in den sekundären Sozialisationsinstanzen;
  • frühzeitige Kontakte mit gewaltaffinen und hassorientierten Cliquen;
  • bei jungen Menschen mit Migrationsgeschichte: geringe Akzeptanz in der Mehrheitsgesellschaft (im sozialen Umfeld) und geringer oder gar kein außerschulischer Kontakt zu deutschen Gleichaltrigen.

Eine qualitative BKA-Studie, die Biographien von Extremisten und Terroristen untersucht, kommt u. a. dem Ergebnis:

„Radikalisierungs- und Ideologisierungsprozesse stellen keine für sich stehende Entwicklung in anderen Lebensbereichen (wesentlich: Schule, Familie, Freiheit) isolierten Prozesse dar, sondern waren integraler Bestandteil der biographischen Verläufe. Für gewöhnlich vollzogen sie sich schleichend und setzen bereits vor dem Eintritt in die rechtsextreme Szene ein … Das jeweilige extremistisch-terroristische Milieu bzw. Gruppenangebot fungierte als Ersatz für ein funktional und strukturell gestörtes Elternhaus … Die analysierten biografischen Verläufe stellten sich als eine höchst problembehaftete Suche nach Ordnung und Struktur dar, die mit einer Verzögerung des Reifungsprozesses, des Erwachsenwerdens bzw. der Bewältigung jugendaltersspezifischer Entwicklungsaufgaben einherging.“ (Lützinger 2010, S.75 f)

Eigene  Viktimisierungserfahrungen können dazu führen, dass Gefühle von Hilflosigkeit, Ohnmacht, Angst, Verzweiflung, Vereinsamung hinter einer gefühlskalten Verschalung versteckt und abgelehnt werden. Diese Jugendlichen lassen dann nichts mehr an sich herankommen. Eigene Gewaltausübungen ermöglichen diesen Verdrängungsprozess, da hier Gefühle von Macht, Anerkennung und Respekt erlebbar werden und den Jugendlichen scheinbar unangreifbar machen. Die subjektive Sinnhaftigkeit von Gewaltverhalten liegt hier in der Verdrängung lebensgeschichtlicher Erfahrungen begründet. Damit geht häufig einher, dass die Jugendlichen zu hoher Autarkie und hypermaskulinen Männlichkeitsidentitäten neigen.

Radikalisierungsprozesse dienen einerseits zur Gewaltlegitimation und andererseits zur Identitätsstabilisierung. Frühzeitig entwickelt sich bei diesen jungen Menschen der Prozess der Gewaltkarriere – vom ersten Schlag als epiphanischer Erfahrung bis zur grundsätzlich feindlichen Wahrnehmung der sozialen Umwelt. Der Kreislauf der Gewaltkarriere, wie von Ferdinand Sutterlüty beschrieben (2002, S. 251), zeigt dies deutlich.

Sutterlüty unterscheidet im Zusammenhang mit der Herausbildung von Gewaltkarrieren drei Entwicklungsstränge, die keine zeitliche Stufenfolge bilden müssen, aber doch mehr oder weniger aufeinander aufbauen: „epiphanische Erfahrungen“, „gewaltaffine Interpretationsregimes“ und „Gewaltmythologien“ (Sutterlüty 2002, S. 251).

Epiphanische Erfahrungen

Der erste Entwicklungsstrang geht aus Ereignissen hervor, in denen die Jugendlichen den Wechsel von der Opfer- in die Täterrolle vollziehen. Diese Ereignisse werden epiphanische Erfahrungen genannt und werden häufig als Brücke zu einer neuen Lebensphase und zu einem neuen Selbstverständnis beschrieben, das sich wesentlich durch Gewalt konstituiert und Selbstachtung bzw. Selbstvertrauen aufbaut und Anerkennung und Respekt im Umfeld auslöst. Diese Erfahrungen können in einer Situation erfolgen, in der das Opfer von Missachtung und Misshandlung sich gegen den Schädiger zur Wehr setzt, also eine direkte Konfrontation zwischen Opfer und familiärem Täter stattfindet. Der ohnmachtsbedingte Hass kann aber auch in außerfamiliäre Bahnen gelenkt werden. Für eine gewisse Zeit können somit die erlittenen Demütigungs- und Ohnmachtserfahrungen kompensiert werden, verschwinden allerdings nicht und müssen durch neue Gewalthandlungen wiederholt werden (vgl. Sutterlüty 2002, S. 251-277).

Neben diesen singulären epiphanischen Erfahrungen spielen bei der Entwicklung von Gewaltkarrieren auch Interpretationsprozesse eine entscheidende Rolle, die auf die familiäre Opfergeschichte zurückgehen, nämlich die „gewaltaffinen Interpretationsregimes“.

Gewaltaffine Interpretationsregimes

Gewalt wird dann zu einer wahrscheinlichen Handlung, wenn die Wahrnehmung einer Interaktionssituation im Zusammenhang mit einschlägigen biografischen Erfahrungen steht. Der Begriff der gewaltaffinen Interpretationsregimes weist also einerseits auf die besondere Sensibilität der Jugendlichen für Situationen hin, in denen sich zu wiederholen droht, was sie von zu Hause kennen, und andererseits auf die Bereitschaft, in solchen Situationen zu Gewalt zu greifen:

„Als Interpretationsregimes können diese Deutungen bezeichnet werden, weil sie keiner bewussten Entscheidung der Jugendlichen entspringen, gewisse Interaktionssituationen auf eine bestimmte Weise zu betrachten und zu werten. Sie deuten diese Situationen im Lichte vergangener, paradigmatischer Situationen, ohne dass sie sich oder anderen darüber Rechenschaft geben könnten. Die Jugendlichen werden vielmehr von ihren biografischen Erfahrungen beherrscht und unterstehen dem Regime der mit ihnen erworbenen Wahrnehmungsmuster. Die entsprechenden Situationen sind aus biografischen Gründen überdeterminiert – und dies nicht nur, was ihre Interpretation, sondern auch was die folgende Reaktion angeht. Interpretationsregimes im hier gemeinten Sinn sind gewaltaffin, weil die Jugendlichen bestimmte Situationen durch die Brille von Deutungsmustern wahrnehmen, die eine gewaltsame Antwort als die naheliegendste erscheinen lassen. Sie wollen nicht länger Opfer der Gewalt und Objekt der Erniedrigung sein und glauben, da sie die feindselige Welt ihrer Familie auf andere Handlungskontexte übertragen, sich ständig verteidigen und den Angriffen anderer zuvorkommen zu müssen.“ (Sutterlüty 2002, S. 278)

Abb. 1: Der Gewaltkarrierekreislauf

Gewaltkarrierekreislauf

Gewaltmythologien und Kämpferideale

Die Erfahrung der Gewaltausübung kann Folgen für das Selbstbild der Akteure und ihre normativen Ideale haben. „Wenn in der Erfahrung der Gewaltausübung selbst ein anziehendes, weil Ekstasezustände und Machtgefühle verbürgendes Moment steckt, dann kann dies nicht ohne Folgen für das Selbstverständnis und die Wertehaltungen bleiben.“ (Sutterlüty 2002, S. 293) Die entstandenen Werte und Selbstbilder von gewalttätigen Jugendlichen bezeichnet Sutterlüty als „Gewaltmythologien“. Er führt zwei Gründe auf, von Mythologien der Gewalt zu sprechen:

Erstens können mit dieser Bezeichnung die vielfältigen Verherrlichungen von Macht und Stärke in Verbindung gebracht werden mit den hohen Erwartungen, die Jugendliche mit der Gewaltausübung verbinden. Mit der Gewaltausübung wird eine bisher nicht gekannte Anerkennung erreicht, die den Jugendlichen eine ungeahnte Größe verleiht. Gleichzeitig gewinnen Ideologien eine Bedeutung, die Macht- und Gewaltausübung legitimieren.

Zweitens bezieht sich der Begriff „Mythologie“ auf den Fakt, dass die Jugendlichen der Gewalt Wirkungen zusprechen, die sich früher oder später durch konträre Gegenfolgen als unrealistisch herausstellen müssen. „Die Anerkennungserwartung wird durch gegenläufige Gewaltfolgen konterkariert, die von der Stigmatisierung im privaten Lebensumfeld, negativen schulischen oder beruflichen Konsequenzen bis hin zu strafrechtlichen Folgen reichen.“ (Sutterlüty 2002, S. 294) In diesem Sinne bleiben die hohen Erwartungen an die glorreichen Wirkungen der Gewalt ein bloßer Mythos.

Bei den betroffenen jungen Menschen ist oft zu beobachten, dass der Gewaltkarriereverlauf dem Radikalisierungsprozess vorgeschaltet ist. Gleichzeitig ist aber auch festzustellen, dass junge Menschen mit hohem Gewalttatdrang zunehmend anfällig für menschenverachtende Ideologien werden.

Biografisches Verstehen – Aufarbeiten der eigenen Geschichte

Forschungsergebnisse zu kindlichen Entwicklungsrisiken zeigen, dass sich erstaunlich viele Kinder und Jugendliche trotz belastender Lebensbedingungen und ausgeprägter Risiken zu kompetenten, leistungsfähigen und stabilen Persönlichkeiten entwickeln (vgl. Zander 2008): Sie zeigen sich resilient. Resilienz (Widerstandskraft) meint die Fähigkeit einer Person, erfolgreich mit belastenden Ereignissen und Lebensumständen umzugehen. Diese Menschen „zerbrechen“ nicht an schwierigen Lebensumständen. Um von Resilienz sprechen zu können, müssen zwei Kriterien vorliegen:

  • schwierige Lebensumstände, die eine bedeutende Bedrohung für die kindliche Entwicklung darstellen,
  • eine erfolgreiche Bewältigung dieser belastenden Lebensumstände, d. h. es treten keine psychosozialen Störungen (z. B. gewalttätiges Verhalten, Sucht, Depressionen) auf, und es werden altersangemessene Fähigkeiten erworben, um die altersspezifischen Entwicklungsaufgaben zu leisten

Daraus folgt, dass gewaltbereite und hassaffine junge Menschen nicht wirklich resilient sind. Aber da Resilienz keine angeborene Eigenschaft der Person darstellt, kann diese sich entwickeln. Voraussetzung ist hierfür der Aufbau einer sicheren Bindung zu einer Bezugsperson. Hierbei geht es um Wechselwirkungsprozesse, bei denen die erfolgreiche Bewältigung von belastenden Lebenssituationen die Persönlichkeit weiter stärkt und das Gefühl von Selbstwirksamkeit und Selbstwertgefühl verbessert. Schon an dieser Stelle wird deutlich, dass Antigewalt- und Deradikalisierungsarbeit beziehungsorientiert und langfristig verankert sein muss.

Biografiearbeit in diesem Sinn richtet sich an Menschen, deren Ausgangsbedingungen für die eigenständige Gestaltung der Biografie erschwert sind. Anlass der Biografiearbeit sind krisenhafte Entwicklungen, die einer Rückschau bedürfen, um unverstandene Teile eigener Lebensgeschichte zu erklären.

Biografiearbeit zielt allgemein auf die Stärkung persönlicher Verantwortungsübernahme, auf die Förderung von Eigenständigkeit sowie auf die Fähigkeit, Vergangenheitserfahrungen mit Gegenwärtigem und Zukünftigem verbinden zu können. In der Arbeit mit jungen Menschen geht es darum, dass „innere Chaos“ zu ordnen. Allgemein zielt biografische Arbeit darauf, das Wissen über sich selbst zu verbessern und zu lernen, sich selbst zum Thema zu machen. Erst dadurch können Verantwortungsübernahme und eigene Handlungssteuerung funktionieren.

Über die Biografiearbeit werden auch Ressourcen identifiziert, die für das Zukünftige wichtig sind; gleichzeitig gilt es, sich von alten negativen Einflussfaktoren (z. B. der gewalttätigen Clique mit menschenverachtenden Einstellungen) verabschieden zu können. Es entsteht durch pädagogisch angeleitetes biografisches Arbeiten darüber hinaus eine weitere Schlüsselkompetenz: die Kompetenz der biografischen Verknüpfungsfähigkeit, d. h. die Fähigkeit, Lebensereignisse zu verknüpfen und heutiges Handeln selbst zu steuern.

Die bekannteste Form der Biografiearbeit ist dem Lebensrückblick („life review“) gewidmet. Als Erinnerungsarbeit wird die bewusste Rekonstruktion und Verarbeitung von Erinnerungen und Erfahrungen bezeichnet. Sie dient der Erklärung, Bewältigung und Integration von Erfahrungen. Eine wichtige Funktion der Biografiearbeit besteht darin, junge Menschen bei der Identitätsentwicklung und der Integration von Erfahrungen in das eigene Lebens- und Selbstkonzept zu unterstützen. „Woher komme ich? Wer bin ich? Wer will ich sein? Was ist mir wichtig? Welchen Sinn hat mein Leben?“ – so oder so ähnlich stellen sich existentielle Fragen nach der eigenen Identität.

Die Analyse der eigenen Biografie dient den Jugendlichen nicht als Entschuldigung für ihr Gewaltverhalten. Das Nachzeichnen ihrer ureigensten Geschichte gibt ihnen Erklärungen und die Vorstellung, dass sie selber die Akteure ihres Lebens und des Geschehens darin sind. Mit ihnen ist nicht nur etwas geschehen, ihnen ist die Tat nicht einfach nur widerfahren – wie es die ersten Legitimationen, die zunächst präsentierten Verleugnungs- und Verharmlosungsstrategien für ihre Taten nahe zu legen scheinen. Sie sind Handelnde, und dafür gibt es Erklärungen.

Die Jugendlichen müssen eine Ahnung von dem lebensgeschichtlichen Muster bekommen, dessen sie sich bedienen. Nur wenn sie ergründen können, warum sie Gewalt anwenden, warum sie dieses Verhalten als misslungenen Selbstheilungsprozess ihrer eigenen Verletzungen und als Tankstelle für ihr eigenes Ego brauchen, werden sie in der Lage sein, Alternativen zu entwickeln und ihre Gewalt- und Radikalisierungskarriere zu unterbrechen.

Beim biografischen Verstehen wird Raum für Gefühle gegeben. Die TrainerInnen zeigen Verständnis für die jeweilige Situation und den damit verbundenen Gefühlen. Damit können diese akzeptiert werden, wie ein Beispiel aus einer Gewaltsitzung illustriert:

Sebastian F. ist in einer rechtsextremen Familie aufgewachsen. Der Vater, Funktionär einer rechtsextremen Organisation, erzog seinen Sohn mit strengster Härte und Feindbilddenken. Der Sohn flüchtete in Drogenkonsum, woraufhin der Vater während einer rechtsextremen Versammlung seinen Sohn mit 12 Jahren als „undeutsch“ beschimpfte und aus dem Elternhaus verbannte. Von diesem Zeitpunkt wuchs Sebastian in einer Kameradschaft auf, und mit 14 Jahren musste er das Aufnahmeritual absolvieren. In der Gewaltsitzung erzählt er von diesem Initiationsritual, mit dem er zugleich seine erste Gewalttat beging. Ziel des Rituals war es, Kampfbereitschaft und Loyalität zu beweisen und sich als würdiges Mitglied in die Kameradschaft einzugliedern. Es ging um die „Verabreichung eines Denkzettels“, doch das gewählte Opfer war nicht in seiner Wohnung. Um das Opfer abzupassen, warteten die Täter warteten auf der Straße. Als auf der anderen Straßenseite eine farbige Familie Einkaufstüten in ihren Wagen lud, wies ein älteres Kameradschaftsmitglied Sebastian auf die Familie hin: „Siehst Du da die Negerfamilie“. Dieser lapidare Satz genügte, um dem Jugendlichen grünes Licht zu signalisieren. Der Jugendliche rannte zum Auto und schlug ununterbrochen auf den Mann ein, die anderen beiden Täter hielten die Frau und den etwa 6jährigen Jungen zurück. Das Opfer lag blutend am Boden. Sebastian stieg auf eine Parkbank, um mit seinen Springer- stiefeln auf den Kopf seines Opfers zu springen. Der ältere Mittäter beendete an diesem Punkt den gewalttätigen Initiationsritus: „Es reicht“. Die Täter verließen den Tatort und feierten die Aufnahme des Jüngeren in die Kameradschaft. Er hatte den Gehorsamstest bestanden.

Gekürzte Sequenz aus der Gewaltsitzung:

„Es war berauschend, ich konnte über Leben und Tod entscheiden.“

„Konntest Du nicht, Du musstest gehorchen, andere haben entschieden.“

„Ich hätte es aber getan, der Mann war mir völlig egal und die Frau hätte ich auch zusammengeschlagen, Nigger.“

„Und das Kind?“

„Die Frage ist unfair, es gibt einfach zu viele von denen.“

„Hast Du das Kind schreien gehört?“

„Wollte ich nicht.“

„Was meinst Du, welche Gefühle hat der kleine Junge gehabt, als er gesehen hat, dass sein Vater um sein Leben ringt?“

„Ohnmacht … Wut … hilflos … Verzweiflung … eine unglaubliche Angst, aber ich habe kein Mitleid mit denen, darauf wollt ihr doch hinaus.“

„Was meinst Du, wie wird der Junge eines Tages mit diesen Gefühlen umgehen?“

Spontane Antwort: „Eines Tages springt er jemanden auf den Kopf.“ … Schweigen. Erst jetzt zeigte der Teilnehmer Gefühle …

Biografisches Verstehen bedeutet, den Teilnehmern den Zugang zu den eigenen Emotionen zu öffnen; biografisches Verstehen heißt basal Fühlen lernen – und ist der erste Schritt zum Abschiednehmen von Hass und Gewalt.

 

Literatur

Lützinger, Saskia, 2010: Die Sicht des Anderen – Eine qualitative Studie zu Biographien von Extremisten und Terroristen, Luchterhand-Verlag

Lehmann, Rena: Ex-Neonazi fürchtet die Freiheit. In Rhein-Zeitung – Journal – 21. April 2012.

Sutterlüty, F., 2002: Gewaltkarrieren. Jugendliche im Kreislauf von Gewalt und Missachtung. Frankfurt am Main, Campus-Verlag

Mücke, Thomas: Zur Notwendigkeit biographischen Arbeitens in der Antigewaltarbeit. Ein Praxiseinblick in: unsere jugend, 64. Jg., S. 204 – 212 (2012)

Zander, M., 2008: Armes Kind – starkes Kind. Die Chance der Resilienz. Wiesbaden

Köttig, Michaela 2004: Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen. Biographische Verläufe im Kontext der Familien- und Gruppendynamik, Gießen, Psychosozial-Verlag

Der Autor

Thomas Mücke, Dipl.-Pädagoge und Dipl.-Politologe, ist Geschäftsführer von Violence Prevention Network und Mitbegründer des Ansatzes der Verantwortungspädagogik®.