Der vertrauensvolle Dialog

Zentrale Erkenntnisse aus einem Online-Workshop zum Thema Multi-Agency-Ansätze in der Prävention von religiös begründeter Radikalisierung

Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Violence Prevention Network

Das von Violence Prevention Network gGmbH geleitete Cluster „Dialog mit der Fachpraxis / Präventionsmaßnahmen“ im Forschungsverbund RADIS traf sich im Februar 2022 zu einer Online-Veranstaltung, um das Thema Multi-Agency-Ansätze in der Prävention von religiös begründeter Radikalisierung anhand eines kommunalen Beispiels zu diskutieren.

Im Rahmen der Veranstaltung stellte der Leiter der sächsischen Koordinierungs- und Beratungsstelle Radikalisierungsprävention (KORA), Khaldun Al Saadi, das Prinzip des Aufbaus eines vertrauensvollen Dialogs mit muslimischen Communities am Beispiel Sachsens vor. Die Veranstaltung diente zur Information, Inspiration und Vernetzung der etwa 15 Teilnehmer*innen aus der Wissenschaft. Sie beabsichtigen in ihren Forschungsprojekten zum Teil auch den Aufbau von nachhaltigen, vertrauensvollen Dialogen, um einen wechselseitigen Wissenstransfer und Erfahrungsaustausch mit muslimischen Communities zu erreichen.

Aufbauend auf den Gesprächen und der Diskussion im Workshop richtet der dritte Beitrag dieser Blog-Reihe den Blick auf die Herausforderungen und deren Lösungsansätze, die beim Aufbau eines vertrauensvollen Dialogs mit muslimischen Organisationen, Verbänden, Gemeinden und weiteren Vertreter*innen auftreten können.

Vertrauensvoller Dialog als Grundlage für zukünftiges Multi-Agency Working

Das Leistungsspektrum des vom Bundesprogramm „Demokratie leben!“ geförderten staatlichen Projekts KORA umfasst eine Vielzahl von Angeboten, wie z. B. der Umfeld-, Ausstiegs- und Deradikalisierungsberatung im Kontext religiös begründeter Radikalisierung, aber auch pädagogische Workshops zur Festigung von interreligiösen und -kulturellen Kompetenzen in Bildungseinrichtungen. Zudem werden Fortbildungen und Trainings für Fachkräfte zur Stärkung der Handlungskompetenz im Umgang mit radikalisierungsgefährdeten Menschen angeboten – dezidiert auch für Fachkräfte aus muslimischen Gemeinden.

Die Idee, einen vertrauensvollen Dialog mit muslimischen Communities aufzubauen, basierte auf der Erkenntnis, dass Betroffene von Radikalisierung sich gerade in einem frühen Stadium der Radikalisierung in muslimischen Organisationen aufhalten können. Anwerber*innen für extremistische Gruppen sind bemüht, schwache Strukturen und fehlende Angebote in muslimischen Organisationen zu nutzen, um vulnerable Personen anzusprechen. Ziel ist in der Regel, sie aus ihrem Umfeld herauszulösen und zu Treffen in extremistischen Kreisen zu bewegen. Es wurde nach einem Ansatz gesucht, muslimische Organisationen dafür zu gewinnen, diesem Risiko mit zielgruppengerechten Angeboten der Sozialen Arbeit, einer Sensibilität für Radikalisierungsvorgänge und unterstützenden Ansprechpartner*innen auf Seiten von Staat und Zivilgesellschaft entgegenzuwirken. Ein Ausschlusskriterium für die Einladung zum vertrauensvollen Dialog ist eine Erwähnung von Akteur*innen in den Verfassungsschutzberichten des Bundes bzw. des Landes.

Die Landeskoordinator*innen von KORA agieren dabei als „feste“ Ansprechpartner*innen für muslimische Organisationen in verschiedenen Städten und Regionen Sachsens. Sie vermitteln die muslimischen Communities bei jeglichen Herausforderungen an ein breites Netzwerk aus verschiedenen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Ansprech- und Beratungspartner*innen, die bedarfsgerechte Unterstützung anbieten können. Die Partner*innen des Netzwerkes sind Teil des Kooperationsverbunds des Demokratie-Zentrums Sachsen. Auf zivilgesellschaftlicher Ebene sind es bspw. die Beratungsstelle Sachsen von Violence Prevention Network gGmbH sowie Träger wie das Haus der sozialen Vielfalt e. V., Soziale Dienste und Jugendhilfe gGmbH und die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung GmbH, die die oben genannten Leistungen durchführen sowie in der Strukturförderung von muslimischen Organisationen aktiv sind und bspw. bei Antragstellungen oder bei der Recherche von Förderungen behilflich sind. Von staatlicher Seite sind Integrationsbeauftragte sowie die Sicherheitsbehörden Teil des Verbundes, also u. a. Präventionsbeamt*innen, Bürgerpolizist*innen und am Beispiel von Dresden zusätzlich der Leiter des Staatsschutzes.

Das Zusammenspiel dieses Netzwerkes wird an einem aktuellen Fallbeispiel ersichtlich. Im Anschluss an den Brand eines Müllcontainers vor einer Moschee in Chemnitz im Januar 2022 wurde von KORA ein Raum geschaffen, in dem die betroffene Community offen über Sorgen und Ängste in Zusammenhang mit dem Brand und der möglichen politisch motivierten Brandstiftung sprechen konnte. Es wurde ein strukturfördernder Träger eingesetzt, der die Gemeinde u. a. bei der Initiierung einer Spendenkampagne unterstützte. Die Stadtverwaltung hat für weitere Räume des Austauschs gesorgt und die Polizei ist aktiv auf die Gemeinde zugegangen, um Missverständnisse aufzuklären.

Letztlich kann durch eine solch offene Kooperation unterschiedlicher Netzwerk-Partner*innen ein Beitrag zur Vertrauensbildung geleistet werden, auf den bei Bedarf oder auch bei gefährdungsrelevanten Fällen zurückgegriffen werden kann. Dies kann seinerseits wiederum einen positiven Effekt auf die Radikalisierungspräventionsarbeit vor Ort haben.

Herausforderungen beim Aufbau eines vertrauensvollen Dialogs

Das Label „islamistische Radikalisierung“

KORA wurde im Jahr 2017 als Reaktion auf die Zunahme von Ausreisen aus Sachsen in damalige „IS“-Gebiete und auf Infiltrierungsversuche durch islamistische Gruppen in Sachsen eingerichtet. Sie beschäftigt sich daher vordergründig mit dem Phänomenbereich islamistischer Radikalisierung. Das Label „islamistische Radikalisierung“ erschwert jedoch das Sprechen über kommunale Herausforderungen der muslimischen Organisationen, da es abschreckend und stereotypisierend auf muslimische Communities wirken kann. In der Öffentlichkeit könnte das Label außerdem einen Generalverdacht suggerieren, der sich in mindestens rechtspopulistisch dominierten Kommunen in manifestierenden Ressentiments äußern kann. Die Einbindung von zivilgesellschaftlichen Trägern ist daher eine wichtige Ergänzung, da sie aus der Perspektive muslimischer Gemeinden und Vereine den Fokus nicht nur auf islamistische Radikalisierung, sondern auch auf Islamfeindlichkeit und allgemeine Beratung der Sozialen Arbeit legen. Im Workshop wurde darüber hinaus als Lösungsansatz vorgeschlagen, von „präventiver Sozialarbeit“ oder „präventiver Demokratieförderung“ zu sprechen. Dies richte den Fokus mehr auf ein phänomenübergreifend zu erreichendes Ziel. Das ressentiment-behaftete Label kann somit entkräftet und Vertrauensbildung gefördert werden.

Modellhaft kann hier der Kriminalpräventive Rat Chemnitz erwähnt werden. 2021 hat sich die „AG Rechtsextremismus“ nach vielen Jahren Praxis in „AG Radikalisierungsprävention“ umbenannt, um einen erweiterten Phänomenbereich, wie den des religiös begründeten Extremismus abzudecken. Der Begriff „Radikalisierungsprävention“ als phänomenübergreifender Ansatz wird in diesem Fall von den Teilnehmer*innen als zielführender eingeschätzt – im Vergleich zu dem Label „Islamismusprävention“, wenn eine Zusammenarbeit mit religiösen Gemeinden und Vereinen auf lokaler Ebene beabsichtigt ist und einer Stigmatisierung entgegengewirkt werden soll. Der Titel „Radikalisierungsprävention“ schließt jedoch nicht aus, dass sich Untergruppen bilden, die sich, je nach aktueller Lageanalyse, den speziellen Phänomenbereichen widmen.

Sicherheitsbehörden als Partner*innen

Ein weiterer Punkt, der das Potential des vertrauensvollen Dialogs herausfordern kann, ist eine nicht gänzlich geklärte Funktion der Sicherheitsbehörden in der Zusammenarbeit, die organisatorisch getrennt vom Aufbau eines vertrauensvollen Dialogs stattfindet. Einerseits sollen Sicherheitsbehörden, wie z. B. Präventionsbeamt*innen, miteinbezogen werden und als Ansprechpartner*innen sowie Vertrauenspersonen bei Problemen wie Islamfeindlichkeit fungieren. Andererseits besteht die Gefahr, dass sie bei strafrechtlich relevanten Fällen innerhalb einer muslimischen Community dieser Rolle alleine nicht mehr nachgehen können. Sie übernehmen dann die ermittelnde Position, die ggf. intervenieren bzw. strafrelevante Informationen an ermittelnde Beamt*innen weiterleiten muss. Auf der Vertrauensebene vorbereitende Maßnahmen zur Entwicklung von Multi-Agency-Ansätzen mit Sicherheitsbehörden stoßen damit an ihre Grenzen, da die Behörden oft eine distanzierte, beobachtende und kontrollierende Rolle einnehmen.

In einem lokalen Beispiel wird dennoch versucht, das Vertrauen dadurch zu erzeugen, dass ein*e Bürgerpolizist*in für eine muslimische Community vor Ort zuständig ist und somit Sicherheit vor islamfeindlichen Angriffen vermittelt. Dazu wird aus den Erfahrungen des vertrauensvollen Dialogs in Sachsen berichtet, dass muslimische Communities häufig eigene Sicherheitsbedürfnisse gegenüber der Polizei zum Ausdruck bringen, vor allem nach den Vorfällen in Christchurch und Hanau. Es wurde im Workshop kontrovers diskutiert, ob die Sicherheitsbehörden auch dann noch als vertrauensvolle Ansprechpartner*innen wahrgenommen werden, wenn bspw. der Verdacht einer Radikalisierung in der eigenen Gemeinde vorliegt. In der Kooperation zwischen muslimischen Organisationen und Sicherheitsbehörden herrscht ein Machtgefälle, weshalb bei einem Radikalisierungsverdacht verständlicherweise zunächst zivilgesellschaftliche Ansprechpartner*innen konsultiert würden.

Fehlende Regelstrukturen

Eine organisatorische Herausforderung zeichnet sich bereits zu Beginn des Aufbaus eines vertrauensvollen Dialogs ab. Nach der Vernetzung mit muslimischen Organisationen und der Ermittlung sowie Kontakterhaltung von Stakeholdern, der Abfrage nach Bedarfen, Strukturen und Herausforderungen der muslimischen Organisationen durch sog. SPOT-Analysen (Satisfaction, Problems, Opportunities, and Threats), werden letztlich bedarfsorientierte Empfehlungspapiere verfasst. Aufgrund der fehlenden Regelstrukturen, wie der Bereitstellung von personellen, finanziellen sowie zeitlichen Ressourcen, können diese bislang nicht mit den Partner*innen umgesetzt werden. Die Förderung der präventiven Sozialarbeit und die Stärkung von Regelstrukturen, bspw. durch die Etablierung von Multi-Agency-Formaten, in denen Stadtverwaltung, Träger der Zivilgesellschaft, religiöse Communities, Integrationsbeauftragte, Schulbehörden etc. gemeinsame Strategien entwickeln, würde die Dialogbereitschaft begünstigen und vorantreiben. In Gemeinden, in denen konkreter Bedarf gemeldet oder Strukturen vorhanden sind, konnte zwar ein vertrauensvoller Dialog im engeren Sinn initiiert werden. Oft kann jedoch nicht auf kommunalspezifische Themen adäquat reagiert werden, weshalb vor allem Veranstaltungen mit von KORA gesetzten inhaltlichen Schwerpunkten quartalsweise angeboten werden. Die Weiterentwicklung des vertrauensvollen Dialogs zu einer verfestigten Multi-Agency-Arbeitsgruppe bedarf des politischen Willens der betreffenden Stadtverwaltung und der Bereitstellung und Entwicklung von notwendigen kontinuierlichen Regelstrukturen.

Fazit

Mit der Koordinierungs- und Beratungsstelle Radikalisierungsprävention (KORA) wurde in Sachsen ein Angebot entwickelt, das mittels stakeholder-übergreifender Netzwerk- und Dialogarbeit auf die Bedrohung durch religiös begründete Radikalisierung reagiert. Dabei geht es gleichzeitig um den Abbau von Stigmatisierung und Diskriminierungsvermeidung. Der vertrauensvolle Dialog mit muslimischen Organisationen als Partner*innen ist eines der Hauptziele der Arbeit von KORA und kann als Vorbereitung auf Multi-Agency-Zusammenarbeit betrachtet werden. Das Ziel ist, eine langfristige Sensibilisierung dafür zu erreichen, dass ein Netzwerk an diversen staatlichen sowie nicht-staatlichen Akteur*innen als Beratungs- und Ansprechpartner*innen besteht, die lösungsorientiert und vertrauensvoll auf die Herausforderungen der muslimischen Communities eingehen können. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um Probleme wie islamfeindliche Anfeindungen handelt, oder um den Umgang mit extremistischen Akteur*innen in der eigenen Community. Eine Förderung der Regelstruktur auf behördlicher Ebene würde zur Stärkung und Verstetigung dieses Ansatzes führen und Multi-Agency-Working ermöglichen.


Zum Projekt:

RADIS – Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa

In der BMBF-Förderbekanntmachung „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ forschen zwölf Forschungsprojekte zu den vielen Facetten des Phänomenbereichs radikaler Islam: Welche Gründe lassen sich für das Erstarken islamistischer Tendenzen im deutschsprachigen und europäischen Raum identifizieren? Wie wirken islamistische Strömungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes? Und welche Schlüsse können aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit der Präventionspraxis, Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien gewonnen werden? Diesen und weiteren Fragen gehen Forschende vieler verschiedener Disziplinen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Blickwinkeln im Zeitraum von 2020 bis 2025 nach.