„Wir sind ja gar nicht so unterschiedlich. Und wenn doch, ist das ein Problem?“

Transferworkshop zu aktuellen Forschungen der Radikalisierungsprävention an Schulen

Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Violence Prevention Network

Im vierten Beitrag der Blog-Reihe von RADIS werden Lösungsansätze für pädagogische Fachkräfte im Kontext der Radikalisierungsprävention an Schulen präsentiert. Die Lösungsansätze wurden im September 2022 in einem zweistündigen Transferworkshop zwischen 15 Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen aus dem RADIS-Forschungsnetzwerk sowie der Beratungsstelle Gewaltprävention Hamburg, der Forschungs- und Transferstelle Gesellschaftliche Integration und Migration (GIM) und Violence Prevention Network gGmbH diskutiert.  

Aktuelle Zwischenergebnisse der drei RADIS-Forschungsprojekte Distanz, UWIT und eines Teilprojektes von RIRA dienten dem Transferworkshop als Diskussionsgrundlage. Es wurden Handlungsempfehlungen aus den jeweiligen Kontexten der Teilnehmer*innen und deren Erfahrungen zusammengetragen, die das Handlungsfeld Schule breit abdecken.

Der frühe Zeitpunkt des Transferworkshops basiert auf dem Leitgedanken, dass die Forschungsprojekte möglichst frühzeitig mit der entsprechenden Fachpraxis in den Austausch gehen sollten, um gemeinsam bedarfsgerechte Transferprodukte der Forschung zu entwickeln. Im Verlauf der Förderlinie werden weitere Transferworkshops zu diesem Thema stattfinden, in denen die hier zusammengetragenen Handlungsempfehlungen geschärft und gegebenenfalls angepasst werden. Weiterführende Links zur Vertiefung des Themas Radikalisierungsprävention im Schulkontext finden sich am Ende dieses Beitrags.

Was wurde untersucht?

Das Projekt Distanz stellte seine Ergebnisse der Bedarfserhebung unter Sozialarbeiter*innen und Lehrer*innen zu Fortbildungsangeboten an Schulen einer Großstadt im Kontext religiöser Vielfalt und vermeintlicher Radikalisierung vor. Das eng mit Distanz kooperierende Projekt UWIT präsentierte erste Ergebnisse aus den Interviews mit Dozierenden des Studiengangs „Islamische Theologie“ zu der Frage, inwiefern Islamischer Religionsunterricht (IRU) ein Mittel der Radikalisierungsprävention sein kann. Die beiden Projekte stellen die Analysen ihrer Ergebnisse für interessierte Leser*innen ausführlich unter diesem Link vor. Schließlich präsentierte das Teilprojekt „Schulbuchanalyse“ des Projekts RIRA dessen aktuelle Erkenntnisse zum vermittelten Islambild in Schulbüchern.

Zusammenfassung der Zwischenergebnisse der drei Projekte

Für die von Distanz befragten pädagogischen Fachkräfte stehen folgende Fortbildungsbedarfe im Vordergrund: a) frühzeitige Erkennung von religiös begründeter Radikalisierung, b) Ausbau von Konfliktkompetenzen in Bezug auf religiös begründete Streitfragen, c) Erlangung von Hintergrundwissen zu extremistischen Gruppen sowie d) pädagogische Kompetenzen zum Umgang mit diskriminierenden Aussagen von Schüler*innen.

Die von UWIT interviewten Dozierenden sprechen den Lehrkräften des IRU einen Vorbildcharakter in Bezug auf religiöse Lebensführung zu, wodurch deren Unterricht sich für die Radikalisierungsprävention eigne. Um der gesellschaftspolitischen Erwartung gerecht zu werden, ist die Konzipierung des Unterrichts in Zusammenarbeit mit den Kultusministerien der Länder von Seiten der Dozierenden gewünscht. Zeitgleich zum Beginn des IRU wird die Einführung von Ethikunterricht und die Erweiterung von Exkursionsangeboten für Schüler*innen von den Dozierenden vorgeschlagen. Dies hat zum Ziel, die Erwartungshaltung an die Lehrkräfte des IRU auf mehrere Akteur*innen zu verteilen und sie zu entlasten. Außerdem sollten keine Aufgaben auf Lehrkräfte übertragen werden, die nicht in ihrem Fachbereich liegen, weil dies zu einer Überforderung führen kann.

Das im Workshop präsentierte Zwischenergebnis von RIRA bezieht sich auf eine Analyse der Kontextualisierung des Wortes „Islam“ in deutschen Schulbüchern der Fächer Geschichte, Geografie sowie Politik/Sozialkunde. Der Begriff wird u. a. mit Themen wie (Nahost-)Konflikt, Islamismus, Krieg, Migration, Integration und Wir/Ihr-Konstruktionen in Verbindung gebracht. Ein Fokus liegt somit auf negativen Konnotationen des Begriffs. Bezogen auf die islamistische Radikalisierung, wird in Schulbüchern eine Handlungsohnmacht bezüglich der Deradikalisierung suggeriert. Rechtsextremismus sowie linker Extremismus hingegen, als tendenziell politisch verstandene Phänomene, werden eher wissenschaftlich fundiert mittels verschiedenen Erklärungs- sowie Lösungsansätzen besprochen. Aus diesen Erkenntnissen entsteht die übergeordnete Frage für das Projekt, wie die Themen Religion/Islam und Islamismus differenziert aufgearbeitet werden sollten, um präventive Wirkungen bei Schüler*innen zu erzielen bzw. wie Schulbücher die gesellschaftliche Realität spiegeln und eine diskriminierungskritische Sprache einsetzen können.

Der interreligiöse Dialog als Maßnahme der Primärprävention

Um Konfliktsituationen im Schulunterricht einen von Grund auf produktiven und wertschätzenden Rahmen zu verleihen, wurde in der anschließenden Diskussion die Einführung eines interreligiösen Dialogs vorgeschlagen. Die Pflege des Dialogs kann eine differenzierte und respektvolle Diskussionsgrundlage bei religiösen Themen schaffen. Er kann auch genutzt werden, um über Werte, Normen und individuelle Bedürfnisse der Schüler*innen zu sprechen und zu gegenseitigem Verständnis und Vertrauen zu gelangen. Ein Präventionspraktiker berichtete, dass sich Schüler*innen freuen, wenn sie in seinen Workshops an Schulen keine grundsätzlichen Unterschiede untereinander feststellen. Bei thematisch schwer zu behandelnden Themen kann es für Lehrkräfte entlastend sein, wenn externe Präventionsakteur*innen in den Unterricht eingeladen werden. Der interreligiöse Dialog schafft sowohl eine Vertrauensbasis als auch Beziehungsnetzwerke, die bei späteren Konflikten aktiviert werden können.

Langfristig angelegte Kooperationen mit Präventionsakteur*innen statt kurze Fortbildungseinheiten

Der Wunsch, zur frühzeitigen Erkennung von Radikalisierungsprozessen fortgebildet zu werden, war für die Teilnehmenden des Workshops nachvollziehbar und wichtig. Es wurde in der Diskussion jedoch hervorgehoben, dass Fortbildungen keinen universellen Präventions- bzw. Lösungsansatz darstellen können. Ein in der Radikalisierungsprävention tätiger Praktiker merkte zudem an, dass es ausgeschlossen sei, alle Indizien für Radikalisierungsprozesse in der Praxis erkennen und richtig einschätzen zu können. Zum einen liegt es an der Komplexität des Themas sowie an der alltäglichen Arbeit der pädagogischen Fachkräfte, dass diese Prozesse nicht in Gänze erfasst werden können. Zum anderen bergen alleinige Fortbildungen ohne die Einbettung in ein Gesamtkonzept der Schule das Risiko der Fehleinschätzung von vermeintlichen Radikalisierungsfällen.

Die Praktikerin einer Antidiskriminierungsorganisation sieht in diesen Fortbildungseinheiten zur Erkennung von religiös begründeter Radikalisierung zudem die Gefahr der Reduktion auf problematische Verhaltensweisen von Schüler*innen. Dies kann bspw. zu einer monokausalen Deutung des Islam von Seiten der Lehrkraft führen, die wiederrum Radikalisierungen begünstigen kann, wenn Schüler*innen sich dadurch stigmatisiert und diskriminiert fühlen.Aus Praxissicht sind Fortbildungen zwar nötig, sie können jedoch aufgrund der Komplexität des Themas nur als Hilfestellung dienen. Es wird daher empfohlen, von Grund auf langfristig angelegte Kooperationen zwischen Schulen und Akteur*innen der professionellen Radikalisierungsprävention anzustreben, um Fehleinschätzungen und Stigmatisierungen durch abgesprochene Herangehensweisen zu vermeiden. Dieser Schritt muss mit einer Rollenklärung für Schulleitung, Lehrkräfte und Schulsozialarbeiter*innen verbunden sein.

Fokus auf pädagogische Handlungskompetenzen

Wie ein Zwischenergebnis des Forschungsprojekts Distanz gezeigt hat, fühlt sich die Mehrheit der befragten Fachkräfte gegenüber der Heterogenität der Schülerschaft und den damit verbundenen (religiösen) Konflikten oft unsicher und hilflos. Im Kontext der Frage, wie die Handlungskompetenz gestärkt werden kann, wurde der kommunizierte Bedarf nach mehr Wissen über die Vielzahl der extremistischen Gruppen in Frage gestellt. Es kristallisierte sich im Transferworkshop die Frage heraus, ob ein umfangreiches Wissen über dieses Thema in Situationen von normabweichendem Verhalten und diffamierenden Aussagen überhaupt hilfreich ist. Als eher nützliches Wissen wurde von den Diskussionsteilnehmenden eingeschätzt, dass in den Fortbildungen für Lehrkräfte zur Stärkung ihrer Handlungskompetenz die Differenzierung des ideologischen Überbaus der ihnen im Schulalltag begegnenden Themen wichtig ist. Beziehen sich Aussagen im Schulkontext z. B. auf den Nahost-Konflikt, auf antisemitische Ressentiments, Querschnittsthemen der Prävention wie z. B. Sexismus und Homophobie, oder gibt es Hinweise auf extremistische Quellen? Hier sind oft Positionierungen, Interventionen und sensible Reaktionen hilfreich, die in Fortbildungen gestärkt werden können.

Stärkung der demokratischen Koexistenz

Wie können Lehrkräfte mit abweichendem Verhalten und Demokratie delegitimierenden Äußerungen umgehen bzw. wie können sie die Schüler*innen darauf ansprechen? Dafür sehen die Diskussionsteilnehmer*innen die pädagogische Vermittlung demokratischer Werte als zentrale Herangehensweise. Es sollte dafür sensibilisiert werden, dass die Toleranz unterschiedlicher Meinungen, Lebensstile, geschlechtlicher Vielfalt und Religionsausübungen fester Bestandteil des demokratischen Miteinanders ist. Toleranz stellt sich damit Narrativen entgegen, die bspw. nur eine einzige religiöse Identität suggerieren. „Wir sind ja gar nicht so unterschiedlich. – Und wenn doch? Ist das ein Problem?“ ist der Hinweis eines Diskussionsteilnehmers, dass nicht die Gleichheit der Menschen eine zwingende Erkenntnis ist, sondern jene, dass Unterschiede natürlich und zu tolerieren sind. Wo die Grenzen der Toleranz und Akzeptanz des Unterschiedlich-Seins und die damit verbundenen Geltungsansprüche liegen, ist im jeweiligen Schulkontext auszuloten.

Pädagogische präventive Ziele bzw. Maßnahmen z. B. gegen Antisemitismus, Homophobie und Sexismus sollten daher übergreifend als gemeinschaftlich zu erreichendes Ziel formuliert werden, damit diese Themen nicht auf die muslimische Schülerschaft bzw. auf den IRU ausgelagert werden. Da das Lernen von demokratischem Handeln ein explizites Ziel von Schulen ist, kann auch in diesem Fall ein Austausch zwischen verschiedenen Akteur*innen stattfinden, um einer Überfrachtung und Überforderung der Lehrkräfte entgegenzuwirken.

„Demokratiestunden“ als Regelangebot wird von einem Forschungsprojekt als Ansatz vorgeschlagen, damit Schüler*innen das Aushandeln von Werten und politisch-religiösen Überzeugungen einüben können. Zusätzlich könnten Teamcoachings und pädagogische Fachtage eingeführt werden, in denen verschiedene Themen der Präventionsarbeit besprochen werden.

Die verschiedenen Maßnahmen und Strategien müssen von einem Organisationsentwicklungsprozess gerahmt werden, in dem Stundenkontingente, Personaleinsatz und diverse Rollen auf verschiedenen Schulebenen besprochen und weiterentwickelt werden, um langfristig nachhaltige Präventions- und Interventionsprozesse zu organisieren.

Selbstreflexion der eigenen Position als pädagogische Fachkraft und kritische Auseinandersetzung mit Schulmaterialien

In der weiteren Diskussion wurde kommentiert, dass Radikalisierung zumeist als individueller Prozess verstanden wird. Strukturelle Ursachen werden bei dieser Perspektive oftmals ignoriert. Es war den Teilnehmenden des Workshops wichtig zu betonen, dass das pädagogische Lehrpersonal seine Rolle und die Institution, in der es tätig ist, macht- und rassismuskritisch reflektieren muss. Dies sei notwendig, um bei den hier diskutierten sensiblen Themen die Reproduktion von Stereotypen zu verhindern, Othering-Prozesse zu vermeiden und dafür zu sorgen, dass alle Schüler*innen sich in einem Raum wiederfinden, in dem sie sich gleichwertig behandelt fühlen.

Zusätzlich zur Schaffung eines diskriminierungsfreien Raums wird empfohlen, dass Schulbücher auf die o. g. Sachverhalte hin eigenständig untersucht und problematisch erscheinende Bilder oder Aussagen gemeinsam diskutiert werden sollten. Es wäre hilfreich, wenn Schulmaterialien darauf ausgelegt wären, plurale Inhalte und Bildsprachen zu verwenden, damit es Lehrkräfte leichter haben, problematische Inhalte und Darstellungen in Schulbüchern kontextualisieren und differenzieren zu können. Gemeinsame Analysen im Unterricht zur Entschlüsselung der Bildsprache, können die Klassengemeinschaft in ihrer Medienkompetenz stärken und sie für kritische Akteur*innen auf Social-Media-Kanälen sensibilisieren. Bilder, die die Vielfalt des Islam in Europa widerspiegeln, könnten einem Präventionspraktiker zufolge Schulbücher bereichern und eine präventive Wirkung begünstigen, indem sie eine Wertschätzung für Menschen aus den Herkunftsländern vermitteln.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Die im Transferworkshop vorgestellten Zwischenergebnisse der Forschungsprojekte Distanz, UWIT und RIRA sowie der Perspektivenaustausch in der Diskussion wurden von den Teilnehmenden als Bereicherung für ihren jeweiligen Tätigkeitsbereich wahrgenommen.

Es konnten folgende Handlungsempfehlungen für die Weiterentwicklung der Radikalisierungsprävention an Schulen zusammengetragen werden:

  • Interreligiöser Dialog kann eine geeignete Diskussionsgrundlage sein und vertrauensvollen Austausch ermöglichen.
  • Pädagogische Fachkräfte und Akteur*innen der Radikalisierungsprävention sollten bei der Entwicklung von Maßnahmen und Konzepten zusammenarbeiten, dabei ihre Rollen definieren und die Kooperation nach Möglichkeit langfristig anlegen.
  • Fortbildungen zur Stärkung von Konfliktkompetenzen, Positionierungen, Interventionen und sensiblen Reaktionen in Bezug auf religiös begründete Streitfragen sollten angeboten werden.
  • Die Entwicklung von Fortbildungen zu Trends und Hintergrundwissen über extremistische Akteur*innen sollte vorangetrieben werden.
  • „Demokratiestunden“ sollten als Regelangebot implementiert werden.
  • Teamcoachings und pädagogische Fachtage unterstützen Fachkräfte – z. B. bei der macht- und rassismuskritischen Reflexion der Institution sowie der eigenen Rolle.
  • Zur unmittelbaren Aufdeckung problematischer Darstellungen sollte in Schulbüchern zukünftig eine wertschätzende Bildsprache angewendet werden, die die muslimische Vielfalt in Europa zeigt.
  • Die in Schulbüchern suggerierte Handlungsohnmacht bei religiös begründeter Radikalisierung sollte widerlegt und über Deradikalisierungsmaßnahmen aufgeklärt werden.

Weitere Leseempfehlungen und Videos zum Thema:

Handreichungen

Blogbeiträge und Videos