Mit herausfordernden Sichtweisen souverän umgehen

Workshop an der Universität Vechta zur Radikalisierungsprävention im pädagogischen Kontext

Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Violence Prevention Network

Die Mitarbeiter*innen des RADIS-Forschungsnetzwerks sind neben ihrer Projektarbeit auch im normalen Universitätsbetrieb tätig. Sie geben Seminare und halten Vorlesungen, so wie Prof. Dr. Margit Stein von UWIT und Distanz, die im Sommersemester 2023 eine wöchentlich stattfindende Workshopreihe zum Thema „Islamistische Radikalisierung und Präventionsarbeit“ an der Universität Vechta organisiert hat. Ziel der Reihe waren die Vermittlung von Grundwissen zu interreligiösen Konflikten und Radikalisierung, die Vermittlung von beraterischen Kompetenzen sowie die Vernetzung mit der Fachpraxis. Die Workshops richteten sich an Bachelor-Studierende des Lehramts, der Sozialen Arbeit und der Erziehungswissenschaften, aber auch an interessierte Lehrer*innen und (Schul-)Sozialarbeiter*innen.

Zwei Mitarbeiter*innen von Violence Prevention Network gGmbHaus Berlin, die als Pädagog*innen sowohl im Kontext Schule als auch im Strafvollzug arbeiten, waren im Juni zu Gast und gestalteten einen dreistündigen praxisorientierten Workshop, um einerseits Handlungsempfehlungen für (angehende) Pädagog*innen auszusprechen und andererseits die wichtige Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis zu veranschaulichen. Im sechsten Beitrag dieser Blogreihe werden zentrale Erkenntnisse dieses Workshops zu den behandelten Themen Präventionsformate, Identitätsbildung, Social Media-Inhalte sowie Umgang mit herausforderndem Verhalten von Jugendlichen – auch im Strafvollzug – vorgestellt.

Zehn Studierende, Lehrer*innen und Schulsozialarbeiter*innen nahmen an diesem Workshop teil. Gleich zu Beginn bestätigten sie die Bedeutung der frühen Auseinandersetzung mit dem Thema der Radikalisierungsprävention, die in die Ausbildung der angehenden Pädagog*innen integriert werden sollte. Diese Erkenntnis und die Motivation zur Teilnahme an dieser Workshopreihe sind ein Resultat der individuellen Erfahrungen der Teilnehmer*innen: bspw. durch die zunehmende alltägliche Konfrontation mit dem Thema, durch aktuelle berufliche Herausausforderungen von Seiten der eigenen Schüler*innenschaft oder durch einen beobachteten Radikalisierungsprozess im Bekanntenkreis.

Herangehensweise an Präventionsformate im Kontext Schule und Strafvollzug

Es gibt verschiedene Kontexte, in denen Pädagog*innen mit Radikalisierung und extremistischen Positionen konfrontiert werden. Somit gibt es auch diverse Ansätze, wie die jeweilige Zielgruppe radikalisierungspräventiv erreicht werden kann. Angehende Pädagog*innen sollten den Workshopleiter*innen zufolge überlegen und ausprobieren, in welchem Setting sie sich wohl fühlen bzw. sie sich als selbstwirksam und professionell handelnd erleben: bei der Arbeit in Gruppen, mit Einzelpersonen oder eher in hybriden Formaten? Das sind Fragen, die unmittelbar bei der Konzeptentwicklung von Präventionsformaten aufkommen. Vor- und Nachteile der verschiedenen Settings sind von den (angehenden) Pädagog*innen abzuwägen bzw. an ihren Arbeitskontext anzupassen.

Für den Bereich der religiös begründeten Radikalisierung kann es in allen Kontexten, ob in Einzelgesprächen mit der Schulsozialarbeit oder Gruppengesprächen im Klassenzimmer, ein hilfreicher Ansatz sein, breitere oder allgemeinere Themen zu eröffnen. So sollte nicht das Thema „Islamismus“ als Einstieg gewählt, sondern zunächst generell über Themen wie Religion, Identität(en) und Sinnstiftung im Leben gesprochen werden. Ein besonderes Merkmal dieser Herangehensweise ist, dass sie ressourcen- und nicht defizitorientiert ist und sie somit auf einer positiven Gesprächsbasis aufbaut. Im Rahmen der Diskussion können dann eventuell auftretende extremistische Äußerungen bzw. radikale Positionierungen aufgegriffen und diskutiert werden.

Die Zusammensetzung der Teilnehmer*innen spielt insbesondere im Kontext von Strafvollzug im Gruppensetting bzw. in einer Anti-Gewalt-Gruppe eine wichtige Rolle. Ein Qualitätsstandard ist die Moderation einer solchen Gruppe durch zwei Fachkräfte. Dies ermöglicht es, systemische Methoden in den Gruppenprozess einzubauen, wie z. B. das gemeinsame Vor- und Nachbereiten im „Reflecting Team“, das eine professionelle Begleitung der Kleingruppenarbeit gewährleistet. Zu berücksichtigen ist dabei, wie extrem die Ansichten tatsächlich sind. Ist ein Machteinfluss von extremistischen Personen auf die anderen Gruppenmitglieder zu erkennen und wie wirkt sich dieser auf die Teilnahme und die Verhaltensweisen aus? Ein bis zwei Vorgespräche mit den einzelnen Personen vor der Teilnahme am Gruppenprozess sind deshalb entscheidend, um eine arbeitsfähige Gruppenzusammensetzung zu erreichen und um ggf. extrinsische in intrinsische Motivation zu verwandeln. Den Teilnehmer*innen in spe können Fragen gestellt werden, wie: Was ist deine Motivation an der Teilnahme an einem Workshop zum Thema Religion? Was sind die Erwartungen und Bedürfnisse, die in der Gruppe erfüllt werden sollen? Wenn die Gruppe für dich hilfreich wäre, woran würdest Du das erkennen? Mit den Vorgesprächen zum Gruppensetting haben Pädagog*innen ein hilfreiches Instrument für die erste Motivationsklärung und Zielentwicklung an der Hand, das sie sich nicht, bspw. aus Termindruck, entgehen lassen sollten.

Die Identität als Kernthema der Radikalisierungsprävention

Identität ist ein zentrales Thema in der Radikalisierungsprävention. Sie wird als etwas Fluides betrachtet, das im steten Wandel ist und immer wieder hergestellt und ausgelotet wird. Es kann bei einer Person mehrere Teilidentitäten geben, die je nach Situation bzw. Anlass abgerufen werden. Dabei unterliegen manche Identitäten negativen sozialen Zuschreibungen, wie bspw. dominant-gesellschaftlichen Stereotypen des Muslimisch-Seins. In der Präventionsarbeit wird davon ausgegangen, dass sich (junge) Menschen durch solche Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen nicht zugehörig fühlen, aber auch durch andere Erlebnisse der Enttäuschung und des Scheiterns in ihrem Selbstwert verletzt werden. Solche belastenden Erfahrungen können sich negativ auf die Identitätsentwicklung auswirken.

Wenn sich keine gefestigte und positive Identität manifestieren kann, können sich die sog. Restidentitäten radikalisieren. In einem Radikalisierungsprozess wird hierbei bspw. die von außen abgewertete konfessionelle Identität aufgegriffen, die ohne entsprechende religiöse Bildung Gefahr läuft, mit extremistischen Inhalten aufgewertet zu werden. Damit der Nährboden für solche Radikalisierungsprozesse nicht entsteht, wird die Prävention als gesamtgesellschaftliche Verantwortung betrachtet. Während professionelle Berater*innen versuchen, eine Brücke zwischen einer sich radikalisierenden Person und ihrer Umwelt (wieder)herzustellen, kann auch jedes neue Beziehungsangebot eine positive und präventive Wirkung auf die betroffenen Personen haben.

Eine der Workshopleiter*innen berichtete von einem Crashkurs in Islamwissenschaften, den sie Jugendlichen anbietet, um wichtige theologische Begriffe zu klären. Die Erkenntnis, dass die Begriffe Salam (Frieden) und Islam (Gottergebenheit) dieselbe Wortwurzel teilen, kann zu der Frage einladen: Mit wem oder was kann ich in Frieden sein? Auch die Bedeutung des Begriffs muslim*a (gottergebener Mensch) kann zu der Erkenntnis führen, dass jede*r Muslim*a ein eigenes, individuelles Wertesystem entdecken kann und nicht abhängig von äußeren Zuschreibungen ist. Dies kann der Beginn einer ersten Reflexion über die eigenen ggf. starren und übernommenen Sichtweisen und Identitätsentwürfe sein. Mit einfachen Verständnis-, aber auch mit spiegelnden Fragen, kann die Reflexion verstärkt werden. Dieser sog. sokratische Dialog hat die Selbsterkenntnis zum Ziel, die ohne Überzeugungsarbeit angeregt wird. Zentral ist hier die Kompetenz der Pädagog*innen, sich mit ihrem Wertesystem und ihren Urteilen zurückzuhalten, um den Jugendlichen oder Klient*innen Raum für eigene Reflexionen zu lassen. Dies schließt aber nicht aus, sich ggf. auch zu positionieren oder Aussagen zu hinterfragen.

Social Media-Content in der Prävention

Jugendliche nutzen Soziale Medien für ihre Identitätsbildung, zur Inspiration und (Selbst-)Verwirklichung. Islamistische Akteur*innen nutzen bspw. die Unsicherheiten der muslimischen Jugendlichen aus und forcieren Spaltungen in der Gesellschaft, indem sie die Diskriminierungserfahrungen der Jugendlichen aufgreifen und diese als universelles Zeichen für die Feindlichkeit der Dominanzgesellschaft gegenüber Muslim*innen darstellen.

Anhand mehrerer Videos solcher extremistischen Akteur*innen wurden in diesem Workshop die Wirkmechanismen, die eine radikalisierende Wirkung haben können, gemeinsam analysiert. Die Workshop-Teilnehmer*innen kamen zu der Erkenntnis, dass die einfachen Erklärungen und die charismatischen Akteur*innen Attraktivitätsmerkmale für Jugendliche darstellen können. Dabei ist die Online-Affinität eine Stärke der extremistischen Influencer*innen, die als role models wahrgenommen werden. Die kurzen und professionell produzierten Videos sprechen die zumeist jungen Konsument*innen niedrigschwellig und emotionalisierend an. Interessanterweise sind es gerade die intoleranten Sichtweisen der extremistischen Akteur*innen, die ein vermeintliches Fehlen von Toleranz in der Gesellschaft beklagen. Sie sprechen bspw. von Identitäten, Feinden, ‚Wir‘ gegen ‚die Anderen‘ und Kampf. Vor allem letztgenannter Begriff kann Aggressionen bei Jugendlichen triggern, die aufgrund ihrer alltäglichen Herausforderungen real und durchaus verständlich sind.

Es wurde resümiert, dass eine tiefgründige Analyse mancher Videos oftmals auch für Fachkräfte mit viel Erfahrung sehr komplex ist, da sie angefüllt sind mit Wahrheiten, Unwahrheiten, Auslassungen und vermeintlichen Kausalitäten. Bei der Thematisierung solcher Videos, bspw. in der Schule, kann es hilfreich sein, die problematischen Vorbilder nicht sofort abzulehnen, sondern zunächst offen über die Positionen zu diskutieren. Andernfalls kann das dazu führen, dass die betroffenen Jugendlichen sich der Diskussion verschließen.

Wie erreiche ich meine Zielgruppe? Der kontinuierliche Dialog

Ein souveräner Umgang mit herausfordernden Aussagen und Handlungen bedarf der praktischen Übung, die in diesem Workshop anhand eines Einzelgespräch-Rollenspiels durchgeführt wurde. Eine Erkenntnis war, dass bei Jugendlichen ein Rechtfertigungsdruck entsteht, wenn sie mit ihren Aussagen und Handlungen direkt konfrontiert werden. Für Jugendliche bedarf es in einer solchen Situation des Raums zur Entfaltung, damit sie über ihre Bedürfnisse und ihr Anliegen sprechen können. Andernfalls ist auch hier bei einer Konfrontation das Risiko hoch, dass sie sich verschließen. Von Sätzen wie „Das darfst du hier nicht sagen“ rieten die Workshopleiter*innen daher ab. Alleinige harte Konfrontationstechniken und Verbotsregeln sind (auch im Gruppensetting) wenig hilfreich, wenn sie nicht in Interventionen eingebunden sind.

Expert*innenwissen ist den Workshop-Leiter*innen zufolge nicht notwendig und auf inhaltliche Ping-Pong-Diskussionen müsse man sich nicht einlassen. Viel wichtiger sei es, im Dialog zu bleiben und eigene Bewertungssysteme zurückzustellen sowie auf die eigenen pädagogischen Normen zu vertrauen. Ein Einzelsetting sollte möglichst ohne ein vorher festgelegtes Ziel betreten werden. Denn: Ein positives und authentisches Gespräch auf Augenhöhe, oder auch nur ein kurzer positiver Moment innerhalb dieses Gesprächs, kann auch Jahre später seine konstruktive Wirkung entfalten. Es wurde empfohlen, dass solche schwierigen Dialoge bspw. im Lehrer*innenkollegium geübt und durchgespielt werden sollten, um die eigenen Möglichkeiten und Grenzen auszuloten. Das erhöht die Chance, dass ein souveräner Umgang mit herausfordernden Situationen entsteht, die ggf. an professionelle Berater*innen der Radikalisierungsprävention übergeben werden können. Es kann zudem hilfreich sein, wenn man zu einschlägigen oder wiederkehrenden Themen Handlungsempfehlungen bereitstellt. So wurde im Workshop das praxisnah aufbereitete Kartenset von ufuq.de empfohlen.

Fazit und Ausblick

Dieser Workshop dient als Beispiel für die frühzeitige Einbindung der Fachpraxis in die wissenschaftliche Ausbildung. Da sowohl dieser Workshop als auch die gesamte Workshopreihe als positiv und lehrreich von den angehenden und bereits berufstätigen Pädagog*innen wahrgenommen wurde, wird die Reihe im Wintersemester 2023 unter Beteiligung von Violence Prevention Network gGmbH wiederholt.

Die Handlungsempfehlungen und Erkenntnisse dieses Workshops waren:

  • (Angehende) Pädagog*innen sollten sich für die Präventionsarbeit überlegen, in welchem Setting sie sich wohl fühlen und professionell handeln können: Einzel-, Gruppenarbeit oder hybride Formate. Präventionskonzepte unterscheiden sich in den jeweiligen Bereichen.
  • Die Arbeit an der fluiden Identität einer radikalisierten Person ist ein Kernthema in der Beratungsarbeit. Sowohl negative Erfahrungen mit der Dominanzgesellschaft als auch der Konsum von extremistischen Inhalten (bspw. in den Sozialen Medien), können die Identitätsentwicklung negativ beeinflussen und betroffene Personen radikalisieren.
  • Der Umgang mit herausforderndem Verhalten von Jugendlichen muss geübt werden. Empfehlenswert sind Rollenspiele, z. B. im Kollegium, und ressourcen- anstatt defizitorientierte Herangehensweisen bei Gesprächen sowohl im Einzel- als auch im Gruppenkontext. Den Jugendlichen sollte Raum gegeben werden sich mitteilen zu können, anstatt sie direkt mit ihren problematischen role models und Sichtweisen zu konfrontieren.

Zum Projekt:

RADIS – Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa

In der BMBF-Förderbekanntmachung „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ forschen zwölf Forschungsprojekte zu den vielen Facetten des Phänomenbereichs radikaler Islam: Welche Gründe lassen sich für das Erstarken islamistischer Tendenzen im deutschsprachigen und europäischen Raum identifizieren? Wie wirken islamistische Strömungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes? Und welche Schlüsse können aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit der Präventionspraxis, Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien gewonnen werden? Diesen und weiteren Fragen gehen Forschende vieler verschiedener Disziplinen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Blickwinkeln im Zeitraum von 2020 bis 2025 nach.