„Community, Familie, Freunde, Schule – alle wollen was von mir!“

Transferworkshop zu digitalen Schutz- und Sozialräumen für muslimische Frauen

Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Violence Prevention Network

Im Juli 2023 fand im Rahmen des Clusters „Dialog mit der Fachpraxis“ ein RADIS-Transferworkshop zum Thema Online-Sozialarbeit statt. Das Social Media-Teilprojekt von Wechselwirkungen hat seine Zwischenergebnisse mit dem Titel „Geschlossene Facebook-Gruppen als Schutz- und Sozialraum für muslimische Frauen“ vorgestellt. Am Online-Workshop haben acht Expert*innen und Fachpraktiker*innen von ufuq.de, turn, AVP e. V., modus | zad und Violence Prevention Network gGmbH, sowie vier Wissenschaftler*innen aus dem RADIS-Forschungsnetzwerk teilgenommen.

Der Workshop war sowohl für die Wissenschaftler*innen, als auch für die Praktiker*innen hilfreich, um Erfahrungen und Erkenntnisse abzugleichen und auszutauschen. Das Teilprojekt wird zum Abschluss seiner Projektlaufzeit eine Handreichung mit Handlungsempfehlungen für online agierende Sozialarbeiter*innen veröffentlichen. Der siebte Blogbeitrag dieser Blog-Reihe präsentiert eines der Zwischenergebnisse des Forschungsprojekts und einige der Themen der darauffolgenden Diskussion, die Gegenstand der Handreichung sein werden.

Die Einsamkeit als soziales Problem

Facebook stellt einen wichtigen Bestandteil im Leben vieler Menschen dar, weil sie auf dieser Plattform, besonders in geschlossenen Gruppen, beständig in Bezug aufeinander und in Kontakt miteinander agieren können. Im Fall der untersuchten Gruppen ist der Zutritt von Administratorinnen reglementiert, um einen safe space so gut wie möglich herzustellen. Die Altersstruktur ist sehr divers, von Anfang 20 bis Ende 80 sind Frauen aller Altersgruppen vertreten. Mittels einer qualitativen Inhaltsanalyse hat das Teilprojekt 1.500 Beiträge ausgewertet. Eine der Haupterkenntnisse hierbei ist, dass sich in diesen Gruppen, neben alltäglichen Themen, viel über das soziale Problem der Einsamkeit ausgetauscht wird.

Einsamkeit ist ein subjektiv wahrgenommenes, negatives und unangenehmes Gefühl. Es wird als ein Ausbleiben sozialer Beziehungen und als unerfülltes Bedürfnis nach Zugehörigkeit erlebt, z. B. durch fehlende Unterstützung in der Partnerschaft oder Familie im Zuge einer Konversion. Menschen, die Einsamkeit erleben, befinden sich häufig in vulnerablen und frustrierenden Situationen. Dieses Gefühl in Kombination mit mangelnder Erfahrung von Selbstwirksamkeit, kann sich über einen längeren Zeitraum emotional verfestigen und den Nährboden für die Bildung von Ressentiments gegenüber der Gesellschaft bzw. anderen Personengruppen bereiten.

Vermehrt online agierende Extremist*innen wissen die sozialen Probleme gekonnt auszunutzen, weshalb der Bedarf eines Ausbaus der bedürfnisorientierten (Online-)Sozialarbeit gesehen wird. Zugleich begegnet die Zielgruppe den bereits online tätigen Sozialarbeiter*innen mit Skepsis, was den Zugang zur Zielgruppe erschwert.

Diskussion mit der Fachpraxis

Basierend auf den Zwischenergebnissen des Forschungsprojekts und der identifizierten sozialen Belastung, die in den digitalen Gruppen kommuniziert werden, wurde im Workshop darüber diskutiert, wie (Online-)Sozialarbeiter*innen diese aufgreifen und adressieren können. Wie kann Vertrauen aufgebaut werden und wie sollten dabei Themen der Identität und Selbstwirksamkeit sowie Bedürfnisse und Bedarfe angesprochen werden?

Als ein übergreifendes Thema wurde der benötigte Zeitraum angesprochen, um Zielgruppen online effizienter zu erreichen. Hierbei wurden Möglichkeiten in Betracht gezogen, mit welchen Mitteln ein längerfristiger und zeitlich flexiblerer Aufbau von Beziehungsarbeit zur Zielgruppe gewährleistet werden kann.

Auf der Ebene der Umsetzung wurde diskutiert, wie analoge und digitale Angebote der Sozialen Arbeit mit Hilfe von technischen Marketingtools zusammenwirken und aufeinander Bezug nehmen können. Eine Praktikerin unterstrich die Notwendigkeit dieses Themas aufgrund ihrer Erfahrungen in Workshops an Schulen. Dort würden die analogen Workshops nur punktuell Impulse setzen können, während das Thema im digitalen Raum das Potential hätte, stete Präsenz zu bekommen.

Ein weiteres Thema stellt die Herausforderung der oft gegensätzlichen gesellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber Frauen dar, die in den Facebook-Gruppen diskutiert werden. Es wurde dabei gemeinsam reflektiert, wie Sozialarbeiter*innen mit diversen Sichtweisen bzgl. der individuell angenommenen Rollenbilder umgehen können. Eine Fachpraktikerin verdeutlichte diese Herausforderung, indem sie eine Klientin zitierte: „Community, Familie, Freunde, Schule – alle wollen was von mir!“

Abschließend wurde hervorgehoben, dass muslimische Frauen in der Öffentlichkeit unterrepräsentiert seien und deshalb Strukturen diverser und vertrauensvoller werden müssten, um nicht nur ihre Sichtbarkeit, sondern auch die Sensibilisierung in der Gesellschaft für ihre Herausforderungen zu erhöhen. Dabei wurde darüber nachgedacht, wie muslimische Communitys und Moscheegemeinden mit Sozialarbeiter*innen zusammenarbeiten und welche unterstützende Rolle diese übernehmen könnten.

Handreichung für die Fachpraxis mit Handlungsempfehlungen

Der Transferworkshop konnte bestätigen, dass die Forschung des Social Media-Teilprojekts von Wechselwirkungen praxisrelevante Ergebnisse erarbeitet hat. Erste Handlungsempfehlungen des Projekts wurden mit den Fachpraktiker*innen besprochen und weiter ausgebaut.

Die Online-Fachpraxis kann sich bereits auf die anstehende Publikation der Handreichung freuen, die das RADIS-Teilprojekt von Wechselwirkungen im Jahr 2024 zur Verfügung stellen wird.

Zum Projekt:

RADIS – Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa

In der BMBF-Förderbekanntmachung „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ forschen zwölf Forschungsprojekte zu den vielen Facetten des Phänomenbereichs radikaler Islam: Welche Gründe lassen sich für das Erstarken islamistischer Tendenzen im deutschsprachigen und europäischen Raum identifizieren? Wie wirken islamistische Strömungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes? Und welche Schlüsse können aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit der Präventionspraxis, Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien gewonnen werden? Diesen und weiteren Fragen gehen Forschende vieler verschiedener Disziplinen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Blickwinkeln im Zeitraum von 2020 bis 2025 nach.