Konversion und Rekrutierung im Schulkontext

Überlegungen zur Stärkung der Selbstreflexion und der Haltung von Fachkräften

Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Violence Prevention Network

Im September 2023 hat Violence Prevention Network gGmbH im Rahmen des RADIS-Clusters „Dialog mit der Fachpraxis“ zu einem weiteren Transferworkshop in Berlin zum Thema Radikalisierungsprävention im Kontext Schule eingeladen. Die Diskussionsergebnisse aus dem im Jahr zuvor stattgefundenen Transferworkshop können bei Interesse hier nachgelesen werden.

Es haben insgesamt 19 Wissenschaftler*innen und Fachpraktiker*innen von modus|zad, ufuq.de, IFAK e. V., Violence Prevention Network gGmbH, den RADIS-Forschungsprojekten Distanz, RadiRa und RIRA und der Beratungsstelle Gewaltprävention Hamburg gemeinsam mit dem LKA 702 Hamburg teilgenommen.

Das Forschungsprojekt RIRA eröffnete den Workshop mit der Präsentation seiner Zwischenergebnisse zur Verwendung des Begriffs der Konversion in der Präventionspraxis. Die Beratungsstelle Gewaltprävention und das LKA 702 schilderten gemeinsam die Kooperation mit einer Schule anhand einer Fallvignette. Abschließend präsentierte das Projekt Distanz aktuelle Erkenntnisse einer bundesweiten Bedarfserhebung bei Lehrkräften. Es wurde sehr angeregt über die Themen diskutiert, um gemeinsam Handlungsempfehlungen für die schulische Fachpraxis zu erarbeiten. Diese werden im achten Beitrag dieser Blog-Reihe vorgestellt.

Konversion: ein bedeutungsgeladener Begriff

Das Synonym „Konfessionswechsel“ scheint als Definition für „Konversion“ ausreichend zu sein. Doch wie die Studie von RIRA in Interviews mit Präventionspraktiker*innen herausarbeiten konnte, sind die Vorstellungen über Menschen, die ihre Konfession wechseln, sehr verschieden. Die Annahmen und damit einhergehenden Fremdzuschreibungen bei der Verwendung des Begriffs werden mal mehr, mal weniger von den Akteur*innen reflektiert bzw. bewusst geäußert. Je reflektierter die Verwendung des Begriffs, desto höher das Bewusstsein über die eigene Konstruktion des Begriffs und über die Möglichkeit einer Fehleinschätzung. Ein unkritischer oder unreflektierter Gebrauch von Kategorien dieser Art kann in Bezug auf Klient*innen einen bedeutenden Unterschied machen.

Im Workshop wurde für den Kontext Schule anerkannt, dass beim Thema Konversion verschiedene Wertungen stattfinden (teils auch durch problematische Attribuierungen, wie z. B. geheimnisvoll, potenziell gefährlich, besonders etc.). Ebenso gibt es zahlreiche Perspektiven und Umstände, die Menschen dazu bewegen zu konvertieren (z. B. Zugehörigkeitsgefühl, Sinnsuche, Selbstaufwertung, Nahtoderfahrung etc.). Konversion kann aus diesen Gründen als sensibles Thema und vor allem als ein biografischer Prozess der Identitätssuche verstanden werden. Eine starre Begriffsdefinition ist daher aufgrund der Prozesshaftigkeit einer Konversion wenig hilfreich.

Konversion als Fortbildungsthema für Pädagog*innen zur Stärkung ihrer Haltung

Um die Reflexion über das eigene Begriffsverständnis anzuregen, könnte eine Fortbildung für Lehrkräfte rund um die Frage „Welche Bilder haben Sie bei dem Wort Konvertit*in im Kopf?“ konzipiert werden. Fortbildungsteilnehmer*innen könnten diese Bilder zeichnen, um sie visuell aufzudecken und anschließend gemeinsam zu besprechen. Nach einer Einführung zur begrifflichen Kontextualisierung des Begriffs „Konversion“, könnte mit den Pädagog*innen an deren Haltung gearbeitet werden. Im Sinne der „methodischen Befremdung“ (Köttig 2015) könnte hier anhand von Fallvignetten im Rollenspiel erprobt werden, sich mit eigenen Werturteilen und Zuschreibungen zurückzuhalten und eher neugierig und ressourcenorientiert mit den konvertierten Schüler*innen in einen Dialog zu treten.

Ein weiterer Ansatz für den Bereich Schule besteht darin, ein Angebot an Beratung und Begleitung anzubieten (z. B. durch die Schulsozialarbeit oder Beratungen durch freie Träger), das die oft erstmals gemachten Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen von Konvertit*innen aufgreift und die damit verbundenen Emotionen von Scham, Wut und Einsamkeit zum Thema macht. Diese Gefühle können z. B. eine Abkehr von Freund*innen oder eine Selbstisolierung hervorrufen. Hilfreich bzw. notwendig kann es dabei sein, nach dem Erleben der Umwelt zu fragen, während das Thema der Konversion ausgespart wird. Es sei wichtig, Lehrkräfte dafür zu sensibilisieren, die Schüler*innen nicht auf ihre Konversion zu reduzieren. Genauso wichtig ist es, Schüler*innen darin zu begleiten und zu befähigen, die verschiedenen Bestandteile ihrer Identität zu erkunden und ihnen Raum zu geben, mit dem Ziel, dass Jugendliche sich selbst als ein Mensch mit diversen Charaktereigenschaften, Persönlichkeitsmerkmalen und Interessen begreifen und wahrnehmen. So kann dazu beigetragen werden, dass Jugendliche sich nicht allein auf einen Aspekt ihres Selbst, wie z. B. eine Konversion bzw. eine Religion, reduzieren und sich damit isolieren. Vielmehr gelingt dann, sie einzubeziehen in verschiedene Gruppen und Kontexte, Dialog und Partizipation zu fördern und das Zugehörigkeitsgefühl (z. B. zur Schule, Schulklasse, Freund*innengruppe) zu stärken. Im Ergebnis bleibt die Feststellung, dass es eher auf die Kompetenz und die Haltung der Pädagog*innen ankommt, mit den Gefühlen der Betroffenen umzugehen, als ein*e Expert*in für religiöse Angelegenheiten zu sein.

Praktiker*innen der Radikalisierungsprävention berichten zudem, dass sich Eltern Sorgen um ihre Kinder machen, wenn sie konvertieren. Sie bringen dabei die Position zum Ausdruck, ihre Kinder „an die Religion verloren“ zu haben. Für Lehrkräfte könnte es daher sinnvoll sein, Elterngespräche anzubieten, um abzuklären, ob Sorgen berechtigt sind, oder es nur die erwähnten Bilder im Kopf sind, die eine Dramatisierung verursachen.

Religiös begründete Radikalisierung im Schulkontext

Im Transferworkshop wurden neben dem Thema Konversion auch Rekrutierungsversuche aus dem extremistischen Milieu besprochen, wobei beide Bereiche thematisch klar voneinander abzugrenzen sind.

Ein Mitarbeiter der Beratungsstelle Gewaltprävention (Abt. 4) der Schulbehörde sowie ein Beamter des LKA 702 Hamburg (Dienststelle Prävention gewaltzentrierter Ideologien) stellten ihre Arbeitsweise vor, wie sie bei gemeldeten Hinweisen auf eine mögliche Radikalisierung vorgehen. Dazu diente ein Fallbeispiel einer Berufsschule, an der ein Akteur einer der Hizb-ut-Tahrir nahestehenden Gruppierung auf dem Schulhof Schüler*innen diskret und auf eine für die Lehrkräfte nicht zu erkennende Art und Weise ansprach und gegen Lehrkräfte mobilisierte. Dies hatte zur Folge, dass eine hohe Verunsicherung der Lehrkräfte zum Umgang mit dieser Propaganda entstand. Versuche der Intervention im Unterricht mündeten in destruktive Diskussionsspiralen. Es wurde versucht, diese als Bühne für weitere Rekrutierungen zu nutzen, indem grenzüberschreitende und bedenkliche Aussagen geäußert wurden.

Um die Lagesituation und Dynamik an der Schule zu analysieren, führen Vertreter*innen der Beratungsstelle in solchen Fällen ein klärendes Gespräch mit den Lehrkräften der betroffenen Schüler*innen. Sie entscheiden, ob ggf. eine Sicherheitsbehörde für eine Risikobewertung bei weiteren Beratungsgesprächen dabei sein sollte. Da sich der Verdacht auf Radikalisierung mehrerer Schüler*innen konkretisierte und auch die Mitgliedschaft in der o. g. Gruppierung nachgewiesen werden konnte, wurde das LKA einbezogen. Das LKA übernimmt hierbei nach eigenen Angaben jedoch keinen Ermittlungsauftrag, sondern ist für die Vernetzung der Sozialräume zuständig. Die Zusammenarbeit beruht dabei auf Freiwilligkeit.

Mit den Berater*innen werden in solchen Situationen Schritte und Strategien des Umgangs herausgearbeitet, um die bedenklichen und extremen Aussagen seitens der Schüler*innen in konstruktive Bahnen zu lenken. Falls Rädelsführer*innen in der Schule identifiziert werden können, sollten diese gezielt angesprochen und klare rote Linien kommuniziert werden.

Handlungsfähigkeit bei Verunsicherungen und Ängsten der Lehrkräfte stärken

Solche herausfordernden Situationen verunsichern und ängstigen Lehrkräfte oftmals, weshalb sie eine Auseinandersetzung mit dem Thema scheuen, oder Reaktionen und Aussagen ihrerseits zu weiteren Eskalationen führen, wenn sich z. B. Schüler*innen diskriminiert fühlen. Extreme Aussagen werden tendenziell dramatisiert bzw. als konservativ gelesene Muslim*innen unter einen Generalverdacht gestellt. Häufig werden Aussagen und Gedanken als dogmatische Weltansichten interpretiert und mit der Persönlichkeit der Schülerin oder des Schülers vermischt. Im Vergleich zu einem prominenten Beispiel mit rechtsextremen Vorfällen an einer Schule in Brandenburg, wird deutlich, wie ähnliche Sachverhalte skandalisiert oder auch banalisiert werden können.

Von daher kann eine hilfreiche Einstellung sein, die Äußerungen der Schüler*innen eher als pädagogische Herausforderung zu betrachten und mit einer neugierigen Haltung zu erkunden. Um nicht in destruktive Diskussionen zu geraten, wird zunächst empfohlen, Distanz zur Situation herzustellen, um die Dynamiken nachzuvollziehen und diese einordnen und reflektieren zu können. Weiter wurde dazu geraten, die Methode der „neuen Autorität“ in den Arbeitsalltag der Lehrkräfte zu integrieren und Wege zu finden, wie mit asymmetrischen und symmetrischen Eskalationen umgegangen werden kann, um handlungsfähig zu bleiben.

Lehrkräfte werden nicht zu den einzelnen Themen ausgebildet, die in extremistischen Kreisen diskutiert werden. Es kann daher hilfreich sein, externe Akteur*innen, wie die im Transferworkshop anwesenden Praktiker*innen, in die Schule einzuladen, falls das Aufzeigen der Grenzen nicht hilfreich und kein konstruktiver Dialog möglich ist. Eine Anregung war, in Fortbildungen mit Lehrer*innen zum Thema Wirksamkeit von Propaganda (online und offline) zu arbeiten.

Wichtig sei zu reflektieren, welche Ängste und Bilder bei den Lehrkräften entstehen und was sie dazu motiviert, einen „Fall“ zu melden. Hier ist für weitere Interventionen zu unterscheiden, ob Lehrer*innen sich persönlich bedroht fühlen, oder ob sie sich eher in der Rolle sehen, die Werte der Schule zu verteidigen. Ängste sollten in der Supervision oder kollegialen Intervision Raum bekommen und besprochen werden.

Die Schaffung und Förderung eines „Wir“ im Kollegium

Lehrkräfte dürfen mit diesen Herausforderungen nicht allein gelassen werden. Sie müssen die Schulleitung hinter sich wissen und Unterstützung erfahren, z. B. durch die erwähnte Implementierung von Supervision und Intervision an der Schule. Im Kollegium muss es klare Vorstellungen darüber geben, welche roten Linien nicht zu überschreiten sind bzw. was justiziabel ist und einer sofortigen Intervention bedarf. Außerdem muss geklärt sein, welche Verhaltensweisen einen Aufschub erlauben, aber eine pädagogische Intervention nach sich ziehen sollten und schließlich welche Verhaltensweisen als tolerierbar, ohne Notwendigkeit einer Intervention, gelten. Diese Klärungsprozesse tragen dazu bei, ein „Wir“ im Kollegium im Umgang mit extremistischen Herausforderungen zu stärken. Zusätzlich ist die Einbindung eines Elternbeirats und einer Schüler*innenvertretung zu empfehlen.

Die Erfahrungen und Erkenntnisse sowie die kommunizierten Herausforderungen der Lehrkräfte bestätigen die bisherigen Forschungsergebnisse von Distanz. Die von diesem Projekt befragten Lehrkräfte wünschen sich zu einem großen Teil Fortbildungen, bspw. zum Themenfeld Radikalisierung, und Handlungsleitfäden für Konfliktgespräche. Das Forschungsprojekt arbeitet an einer strukturellen Integration von Praxis- und Beratungsarbeit in die Ausbildung von Pädagog*innen, um angehende Fachkräfte im Kontext Schule für mögliche Herausforderungen vorzubereiten und zu sensibilisieren.

Fazit und Handlungsempfehlungen

Im Transferworkshop konnten folgende Themen für Fortbildungen und Handlungsempfehlungen für Fachkräfte im Kontext Schule erarbeitet werden:

  • Lehrkräfte dafür sensibilisieren, dass ihre Haltung bei pädagogischen Herausforderungen wichtig ist, um durch eine lösungs- und ressourcenorientierte statt einer problemzentrierten Herangehensweise den Dialog mit Schüler*innen auf Augenhöhe aufrechtzuerhalten
  • Methode der „neuen Autorität“ in den Arbeitsalltag der Lehrkräfte integrieren, um Handlungsfähigkeit beizubehalten
  • Im Kontext von Radikalisierungsprozessen: Distanz zu überfordernden Situationen herstellen, um die Dynamiken nachzuvollziehen und diese einordnen und reflektieren zu können
  • Ängste in Supervisionen oder kollegialen Intervisionen besprechen
  • Unterstützung der Regelstrukturen durch Einbezug von Beratungsstellen im Themenfeld, etwa durch Beratung, institutionelles Coaching der Lehrkräfte bzw. Schulen
  • Betroffene Schüler*innen von Diskriminierungs- und Stigmatisierungserfahrungen nicht auf ihre Konversion reduzieren, sondern nach Erleben der Reaktionen ihrer Umwelt fragen.
  • Elterngespräche anbieten, zur Klärung potenziell gerechtfertigter Sorgen der Eltern von konvertierten Schüler*innen
  • Eigene Vorstellungen über Konversion im Fortbildungskontext visuell aufbereiten und gemeinsam reflektieren, Begriff fachlich kontextualisieren sowie im Rollenspiel die Zurückhaltung von Werturteilen erproben
  • Fortbildungen mit Lehrer*innen zum Thema Wirksamkeit von Propaganda (online und offline) durchführen

Zum Projekt:

RADIS – Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa

In der BMBF-Förderbekanntmachung „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ forschen zwölf Forschungsprojekte zu den vielen Facetten des Phänomenbereichs radikaler Islam: Welche Gründe lassen sich für das Erstarken islamistischer Tendenzen im deutschsprachigen und europäischen Raum identifizieren? Wie wirken islamistische Strömungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes? Und welche Schlüsse können aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit der Präventionspraxis, Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien gewonnen werden? Diesen und weiteren Fragen gehen Forschende vieler verschiedener Disziplinen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Blickwinkeln im Zeitraum von 2020 bis 2025 nach.