Wissenschaft-Praxis-Kooperation

Welchen Mehrwert gewinnt die Fachpraxis durch eine Zusammenarbeit mit der Wissenschaft?

Ein Beitrag von Alexander Swidziniewski, Wiss. Mitarbeiter – Violence Prevention Network

Das Transfervorhaben RADIS hat zum Ziel, einen gegenseitigen Wissenstransfer zwischen Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit zu fördern und Synergien zu entwickeln. Ein im Verbund von Violence Prevention Network geleitetes Cluster, das sich mit der strategischen Entwicklung von Präventionsmaßnahmen beschäftigt, trifft sich regelmäßig mit Wissenschaftler*innen der unterschiedlichen Forschungsprojekte. Hierbei werden externe themenzentrierte Inputs zur Inspiration und zur Unterstützung der Forschung angeboten und in Diskussionen aktuelle Herausforderungen und Fragen gemeinsam bearbeitet.

Im ersten Blogbeitrag dieser Reihe ging es um die Erkenntnisse aus einem Wissenschaft-Praxis-Austausch im Rahmen des RADIS-Projektes, in dem Interviewleitfäden für die Deradikalisierungsforschung mit Blick auf deren Anwendbarkeit mit Berater*innen von Violence Prevention Network diskutiert wurden. Durch den Austausch konnten gemeinsam gezielte Anpassungen an den Leitfäden zur Zufriedenheit aller beteiligten Personen erarbeitet werden. Außerdem wurden die Perspektive der Fachpraxis auf ihre Arbeit und die unterschiedlichen und oft kontrovers diskutierten Begriffsverwendungen in der Wissenschaft und Fachpraxis deutlich.

In diesem Beitrag geht es um die Frage, welche Beiträge der Wissenschaft für die Fachpraxis bei der Erarbeitung von Präventionsmaßnahmen nützlich sein können. Es geht weiter um die Frage, warum der Dialog zwischen Fachpraxis und Wissenschaft regelmäßig und vor allem frühzeitig stattfinden muss, wenn anwendungsorientierte Maßnahmen entwickelt werden sollen. Zunächst ist es hilfreich, auf die Gründe für den vielfach thematisierten erschwerten Zugang der Wissenschaft zur Praxis zu blicken, bevor Handlungsempfehlungen besprochen werden, die die notwendige Verzahnung von Wissenschaft und Praxis fördern können. Abschließend werden auf dieser Grundlage Ideen und Strategien sowie zwei Herangehensweisen aus Forschungsprojekten des RADIS-Verbundes benannt, die zu erfolgsversprechenden (Weiter-)Entwicklungen von Präventionsmaßnahmen führen können.

Verständnis- und Kontaktprobleme durch Erfahrungen im Evaluationskontext

Der Kontakt zwischen Wissenschaft und Praxis findet im Phänomenbereich Extremismus häufig ausschließlich im Evaluationskontext statt. Dies wird problematisch, wenn bei einer Zusammenarbeit intransparent bleibt, auf welcher Grundlage Wissenschaftler*innen bestehende Präventionsmaßnahmen als wirksam erachten, und sofern im Vorfeld keine (kern-)begrifflichen Abstimmungen und kein Austausch über verwendete Ansätze, Theorien und Methoden erfolgen.[1] Des Weiteren ist es hinderlich für eine gelingende Kooperation, wenn Forscher*innen nicht die Handlungslogik von Praktiker*innen und deren Praxiswissen berücksichtigen, sondern lediglich in der Logik Forschende/Beforschte agieren.[2]

Diese Herangehensweise hat in der Vergangenheit bei Praktiker*innen Misstrauen und Verunsicherungen im Kontakt mit der Wissenschaft hinterlassen.[3] Die entstandene Skepsis kann ein Grund für die bislang nicht zufriedenstellende Ausgangssituation für eine Zusammenarbeit sein. Im Bereich der Deradikalisierungsforschung hemmt das Ausbleiben einer Zusammenarbeit die Wissenschaft und die Praxis gleichermaßen, weil Erkenntnisse aus der Forschung unzureichend sind und hinter den Bedürfnissen der Fachpraxis zurückbleiben. Die Fachpraxis wiederum kann ihre Erfahrungen nicht an die Wissenschaft transferieren und keiner Analyse unterziehen.[4] Dadurch fehlen für das pädagogisch-fachliche Handeln wertvolle Reflexionsperspektiven aus der Wissenschaft.

Bedingungen für einen produktiven Wissenschaft-Praxis-Austausch auf Augenhöhe – Beispiel: FoPraTEx

Um Synergieeffekte zwischen Wissenschaft und Praxis zu erzeugen, müssen die unterschiedlichen Annahmen und Erfahrungswerte über Wirkungszusammenhänge und Wirkungseinschätzungen von Praktiker*innen berücksichtigt und einbezogen werden.[5] Es ist daher notwendig, dass Forscher*innen frühzeitig auf Praxisfelder zugehen, um u. a. theoretische, methodische und begriffliche Annahmen zu besprechen und in ein „produktives Austauschverhältnis“[6] in einem „Dritten Raum“ zu treten.

Die Notwendigkeit eines solchen Dritten Raumes wurde in einer 2016 durchgeführten Evaluation bestätigt, in der nach Kriterien für eine gelingende Beratungspraxis im tertiärpräventiven Bereich gesucht wurde. Neben Qualifizierungen und Fortbildungen der multiprofessionellen Teams in den Beratungsstellen, erwies sich die stete wissenschaftliche Begleitung der Beratungsstellen als gewinnbringend. Mit der Gründung des Verbundes FoPraTEx (Forschung-Praxis-Transfer islamistischer Extremismus) entstand eine räumliche und strukturelle Verzahnung zwischen Wissenschaft und Praxis, in der der Transfer von Praxiserkenntnissen in die Wissenschaft und neugewonnenen Erkenntnissen sowie Trends der Wissenschaft in die Praxis verfolgt wurde.[7] Dieses Vorgehen begünstigt eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe, indem der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Fachpraxis nicht einseitig als 1:1-Übertragung verstanden wird, sondern eine gemeinsame Erarbeitung und Umformung der jeweiligen Erkenntnisse stattfindet, um sie in der Praxis anwendbar zu machen.[8] So konnten u. a. (bestehende) Präventionsmaßnahmen evidenzbasiert (weiter-)entwickelt werden.

Vorteile einer Zusammenarbeit

Um diese grundlegend vertrauensvolle Zusammenarbeit zu garantieren, muss im Vorfeld wesentlich mehr Zeit für eine gemeinsame Abstimmung zwischen Wissenschaftler*innen und Praktiker*innen eingeplant werden. Dies kostet jedoch Ressourcen und es stellt sich darüber hinaus bei Forschungsprojekten, die selten über mehrere Jahre andauern, vor allem für die Fachpraxis die Frage, welchen Nutzen sie aus einer Zusammenarbeit zieht, die nicht auf Dauer angelegt ist. Was sollte also berücksichtigt werden?

Es ist wichtig zu betonen, dass Forschungsprojekte nicht mit der Fachpraxis „kooperieren“, indem sie lediglich Daten von Praktiker*innen „abgreifen“. Häufig sind fachwissenschaftlich ausdifferenzierte Forschungsfragestellungen zu speziell, fern von der Realität der Präventionsarbeit und somit für Praktiker*innen nicht nachvollziehbar. Bereits am Beginn einer Kooperation sollten Wissenschaftler*innen deshalb die Fragen und Bedarfe der Praxispartner*innen aufgreifen und Interesse an diesen zeigen.

Sowohl diese Erkenntnis, als auch das generelle Fehlen von („Dritten“) Räumen für den Wissenschaft-Praxis-Dialog wird von zwei Forschern der Projekte Distanz und RIRA im RADIS-Verbund bereits berücksichtigt, die sich jeweils mit Präventionsmaßnahmen im Kontext Schule beschäftigen. Sie verfolgen für ihre jeweiligen Projekte den oben genannten Ansatz einer Kooperation von Anfang an und erschaffen somit einen grundlegenden Raum des Austausches und der gegenseitigen Wertschätzung.

Im Projekt Distanz wird dies bspw. dadurch erreicht, dass das Forschungsdesign, das die Herausforderungen von Lehrkräften bei der Identifizierung von Radikalisierungsprozessen in den Blick nimmt, den Praxispartner*innen transparent und offen zur Bearbeitung und Anpassung vorgelegt wird. Zusätzlich werden logic models (vereinfachende, grafische Darstellungen zur Sichtbarmachung von Prozessen und Wirkmechanismen von Praxisansätzen) gemeinsam mit den Partner*innen erstellt. Dabei gibt es zu jedem Zeitpunkt der Kooperation die Gelegenheit, Bedürfnisse und Bedarfe in die Forschung einfließen zu lassen. Der Vorteil bei dieser Herangehensweise ist, dass es sich hierbei um eine partizipative und bedarfsorientierte Forschung handelt, bei der bspw. die Zwischenergebnisse in Form von Berichten der Praxis regelmäßig zur Verfügung stehen. Die Berichte und die fortlaufende Begleitung der Praxis im Forschungszeitraum sind dabei bereits Produkte und Angebote, die einen Mehrwert für die praktische Arbeit darstellen. Im weiteren Verlauf der Datenerhebung und -auswertung werden Workshops, Fortbildungen sowie Schulungen angeboten, um Wissen und Maßnahmen zu erweitern. Für eine evidenzbasierte praktische Arbeit werden zudem Handreichungen erstellt, um wissenschaftlichen Standards zu entsprechen.

Diese Produkte stellen vor allem dann einen Mehrwert für die Praxis dar bzw. werden als Mehrwert wahrgenommen, wenn sie aktuelle Trends, Analysen oder Phänomenbeschreibungen zu den für die Praxis relevanten Themen allgemeinverständlich aufarbeiten, und in entsprechenden Formaten, z. B. PowerPoint-Präsentationen, Handreichungen etc., zur Verfügung gestellt werden.

Bedarfsorientiert geht auch das Teilprojekt von RIRA an der Universität Duisburg-Essen vor, bei dem ein Forschungs- und Beratungsinstitut die Vernetzung zwischen Forscher*innen und Praktiker*innen herstellt. Der Grundstein für die gemeinsame Arbeit an Präventionsmaßnahmen gegen Co-Radikalisierungsprozesse in einem Wissenschaft-Praxis-Tandem ist die Entwicklung von lokalen Strukturen und Räumen für einen vertiefenden Beziehungsaufbau zwischen Lehrkräften und Schüler*innen neben dem geregelten Schulunterricht. Es wird vom Forschungsprojekt in erster Linie ein Transfer von Prozessen verfolgt, indem gemeinsam mit Schulen Formate entwickelt werden, die sich resilienzstärkend und präventiv auswirken. Ein Beispiel für solche Formate können Schüler*innensprechstunden sein, die von Schulpsycholog*innen geleitet werden. Hierbei ergibt sich die Möglichkeit, Lehrer*innen zu entlasten und in Erfahrung zu bringen, was Schüler*innen beschäftigt. Formate wie Demokratiestunden und die Schaffung von Strukturen für regelmäßig stattfindende kollegiale Fallberatungen befinden sich gegenwärtig in einer Testphase und haben zum Ziel, die Kommunikationsfähigkeit zu fördern und die pädagogische Praxis zu erweitern und zu schulen.

Ein weiterer Vorschlag für eine gelingende Verzahnung von Wissenschaft und Praxis sind Projektbeiräte in Forschungsprojekten. In diesen können explizit praxisrelevante Fragen behandelt werden, bspw. ob Bedarfe der Praxis umgesetzt werden. Regelmäßige Treffen im Beirat mit Praktiker*innen können so zum Vorteil der Fachpraxis sein. Die hier erwähnten und weitere Forschungsprojekte im Verbundprojekt RADIS haben solche Projektbeiräte, die sich durch Interdisziplinarität auszeichnen und in denen vor allem auch Praktiker*innen Mitglied sind, die hilfreiche Hinweise für eine verbesserte Wissenschaft-Praxis-Verzahnung geben können.

Fazit und Ausblick

Die Vorteile für die Fachpraxis bei einer Zusammenarbeit mit der Wissenschaft überwiegen. Sie ist zum einen über aktuelle Forschungsthemen informiert und kann ihre Reflexionsebene in ihrer täglichen Arbeit erweitern. Zum anderen können Praktiker*innen ihre Bedarfe an die Wissenschaft kommunizieren und an gezielteren und/oder bedarfsgerechteren Forschungsfragen mitwirken. Dadurch werden gegenwärtige Herausforderungen der Fachpraxis sichtbar, die im Idealfall an Mittelgeber*innen als Bedarfsanalysen gespiegelt werden können. Leicht erfassbare Produkte der Wissenschaft, wie Handreichungen und Trendanalysen, können dabei anwendungsbezogenen Mehrwert für die Praxis haben. Eine nachhaltige strukturelle Kooperation könnte darüber hinaus erreicht werden, wenn Prozesse der Zusammenarbeit lokal institutionalisiert und stetig begleitet werden, um auf vertrauensvolle und produktive Austauschverhältnisse aufzubauen. Es würde helfen, wissenschaftliche Mitarbeiter*innen bei den Praxisprojekten vor Ort zu beschäftigen, die eine Brückenfunktion einnehmen (wie es bei FoPraTEx der Fall war). Für dieses Ziel sind bei kurzfristig angelegten Projekten z. B. Projektbeiräte von Vorteil.

Zum Projekt:

RADIS – Forschung zu den gesellschaftlichen Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa

In der BMBF-Förderbekanntmachung „Gesellschaftliche Ursachen und Wirkungen des radikalen Islam in Deutschland und Europa“ forschen zwölf Forschungsprojekte zu den vielen Facetten des Phänomenbereichs radikaler Islam: Welche Gründe lassen sich für das Erstarken islamistischer Tendenzen im deutschsprachigen und europäischen Raum identifizieren? Wie wirken islamistische Strömungen auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder die Gesellschaft als Ganzes? Und welche Schlüsse können aus diesen Erkenntnissen für die Arbeit der Präventionspraxis, Politik und Verwaltung, Zivilgesellschaft, Sicherheitsbehörden und Medien gewonnen werden? Diesen und weiteren Fragen gehen Forschende vieler verschiedener Disziplinen aus unterschiedlichsten theoretischen und methodischen Blickwinkeln im Zeitraum von 2020 bis 2025 nach.

[1] Vgl. Walkenhorst, Dennis. 2021. „Das ‚Erwartungsdreieck Evaluation‘: Eine Praxisperspektive.“ Bundeszentrale für politische Bildung, 20.03.2021. https://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/287931/das-erwartungsdreieck-evaluation-eine-praxisperspektive. (Zugriff am 10.01.2022)

[2] Ebd.

[3] Ebd.

[4] Vgl. Logvinov, Michail. 2021. „Deradikalisierungsforschung. Kritische Bilanz und Implikationen.“ In: Emser, Corinna / Kreienbrink, Axel / Miguel Müller, Nelia / Rupp, Teresa / Wielopolski-Kasaku, Alexandra

(Hg.) (2021): SCHNITT:STELLEN – Erkenntnisse aus Forschung und Beratungspraxis im Phänomenbereich

islamistischer Extremismus, S. 24. Beiträge zu Migration und Integration 8, Nürnberg: Bundesamt für Migration

und Flüchtlinge.

[5] Vgl. Möller, Kurt. 2019. „Evaluation neu denken: Der Dritte Raum.“ Bundeszentrale für politische Bildung, 24.04.2019. https://www.bpb.de/politik/extremismus/radikalisierungspraevention/289854/evaluation-neu-denken-der-dritte-raum. (Zugriff am 10.01.2022)

[6] Ebd.

[7] Vgl. Dittmar, Verena, Gloriett Kargl. 2021. „Professionalisierung der Beratungspraxis zur tertiären Prävention im Phänomenbereich ‚Islamismus‘.“ In: Emser, Corinna / Kreienbrink, Axel / Miguel Müller, Nelia / Rupp, Teresa / Wielopolski-Kasaku, Alexandra (Hg.) (2021): SCHNITT:STELLEN – Erkenntnisse aus Forschung und Beratungspraxis im Phänomenbereich islamistischer Extremismus, S. 156. Beiträge zu Migration und Integration 8, Nürnberg: Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

[8] Vgl. Möller 2019.